Wie Schnelllebigkeit auf die Psyche wirkt
Somatische Erkrankungen und psychiatrische Manifestationen gehen zunehmend Hand in Hand.
Kontakt: Mag. Christian Zniva
Klinischer und Gesundheitspsychologe, Psychotherapeut
Leiter der Klinischen Psychologie im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern Linz Praxis für Psychotherapie und Supervision
Goethestraße 9, 4020 Linz
Tel.: 0699/115 97 226
znivasystemischesinstitut.at
www.christian-zniva.at
Der jährliche Fehlzeitenreport des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung belegt, dass sich seit Mitte der 1990er-Jahre die Zahl der Krankenstandstage infolge psychischer Erkrankungen fast verdreifacht hat. Psychische Krankheiten sind in Österreich mittlerweile die zweithäufigste Krankheitsgruppe bei den Berufs- und Erwerbsunfähigkeitspensionen. Laut Statistik Austria beziehen mit Stand 2013 insgesamt 195.621 Menschen eine Pension aufgrund der Arbeitsunfähigkeit. Das statistische Handbuch der österreichischen Sozialversicherungen nennt in 33,1 % der Fälle psychische Erkrankungen als Hauptursachen. Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO schlägt in die gleiche Kerbe: Psychische Erkrankungen rangieren nach Angaben der internationalen Organisation unter den Top fünf Ursachen von „disease-adjusted life years“. Dazu zählen vor allem unipolare depressive Erkrankungen, Alzheimer und Demenz. Betrachtet man die WHO-Liste der vorrangigen chronischen Erkrankungen wie Alkoholsucht, Diabetes mellitus oder zerebrovaskuläre Krankheiten, so wird auch hier klar, dass diese somatischen Erkrankungen ebenso oft auch mit psychiatrischen Manifestationen einhergehen.
„Die Sensibilität für psychisches Leid in der Bevölkerung ist stark gestiegen. Zudem bieten Diagnoseschemata immer mehr Möglichkeiten, psychisches Leid zu differenzieren und einzuordnen. Das schafft einen Fokus auf jegliche Aspekte unserer Befindlichkeit“, erklärt Mag. Christian Zniva, Psychotherapeut, Klinischer und Gesundheitspsychologe und Psychoonkologe, die Entwicklung.
Nicht zu vernachlässigen sind nach Ansicht des Experten die Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte, die auf der einen Seite unseren Alltag erleichtern, auf der anderen Seite jedoch zu Überforderungen führen. „Ich spreche hier Aspekte der Globalisierung und Technologisierung an. Im Unterschied zu früheren Zeiten leiden wir sowohl an einem ‚Zuviel‘ als auch an einem ‚Zu schnell‘. Auch steigt der ökonomische Druck in Unternehmen. Zeit wird zum kostbarsten Gut, das immer perfekt genutzt werden muss, Freiräume für den einzelnen Mitarbeiter werden kleiner“, so Zniva.
Besonders betroffen sind Menschen, die im personenbezogenen Dienstleistungssektor arbeiten, Mitarbeiter in sozialen Berufen oder im Unterrichtswesen. „Individuelle Faktoren sind hohe Leistungsansprüche, Perfektionismus, unvorteilhaftes Zeitmanagement und eine geringe soziale Eingebundenheit im privaten Feld. Neben Schmerzen im Bewegungs- und Stützapparat äußern sich psychische Probleme häufig in Form von Schlafstörungen, Erschöpfungszuständen, Ängsten und depressiven Verstimmungen“, ergänzt der Experte.
Kostendruck und psychosoziale Versorgung
Zahlreiche Komorbiditäten – etwa zwischen Onkologie und Depression, COPD und Depression, chronischem Schmerz und Depression – sind gut erforscht. Durch das im Krankenanstaltengesetz festgelegte Recht des Patienten auf psychologische und psychotherapeutische Betreuung wurde ein wichtiger Rahmen für die Behandlung von psychischen Komorbiditäten geschaffen.
„Die derzeitige ökonomische Situation in Krankenhäusern erschwert jedoch die vollständige Implementierung einer ausreichenden psychosozialen Versorgung. Gezielte Maßnahmen zur Verbesserung der Strukturqualität sind hier anzustreben. Noch problematischer ist die Situation im niedergelassenen Bereich. Hier gibt es zwar genügend Anbieter, die Kosten müssen jedoch weitgehend vom Patienten selbst getragen werden. Die Etablierung von klinisch-psychologischer Behandlung als Kassenleistung und ein Ausbau kostenloser Kassenplätze für Psychotherapie wären immanent wichtige Schritte, um die psychische Gesundheit körperlich erkrankter Menschen zu fördern“, meint Zniva.
Rolle des niedergelassenen Allgemeinmediziners
Alle psychischen Störungen können gesondert oder als Folge einer somatischen Erkrankung auftreten. Das zentrale Dia-gnoseinstrument dazu ist das explorative Anamnesegespräch. „Hier können psychische Beschwerden angesprochen und der Bezug zum Lebenskontext erfragt werden. Ergänzt werden kann das Bild durch klinische Fragebögen“, erklärt der Psychotherapeut.
Der niedergelassene Allgemeinmediziner ist oft die erste fachliche Ansprechperson für Patienten, die psychische Probleme habe. Er ist sowohl Erstbehandler als auch Clearingstelle für das weiterführende Prozedere. Dadurch nimmt er eine zentrale Rolle auch für die Förderung psychischer Gesundheit ein. „Der niedergelassene Allgemeinmediziner benötigt sowohl die Kompetenz, psychisches Leid zu erkennen, als auch die Fähigkeit, adäquat darauf zu reagieren. Hier braucht es großzügige Schulungsangebote“, so Zniva. rh
Nachgefragt bei ...
... Mag. Christian Zniva, Psychotherapeut, Klinischer und Gesundheitspsychologe und Psychoonkologe
Werden Psychotherapeuten, Gesundheitspsychologen und Psychoonkologen künftig in der somatischen Medizin eine stärkere Beraterrolle einnehmen müssen?
Es geht weniger darum, sich gegenseitig zu beraten, sondern sich sowohl im extramuralen als auch im intramuralen Bereich als multiprofessionelles Team, das aus gleichwertigen Mitgliedern besteht, zu verstehen. Moderne somatische Medizin muss als biopsychosoziale Medizin gedacht werden. Experten aus unterschiedlichen Berufsgruppen arbeiten im engen Austausch miteinander und berücksichtigen somatische, psychische und soziale Bedürfnisse des Patienten.
Experten dafür sind in Österreich vorhanden. Klinisch-psychologische und psychotherapeutische Leistungen müssen jedoch für Patienten erschwinglich sein und den Kassen im wahrsten Sinn des Wortes gleich viel „wert“ sein wie medizinische Leistungen.
Auch Abläufe und Zuständigkeiten müssen inklusive Feedbackschleifen genau geregelt sein. Um Doppelgleisigkeiten zu verhindern und eine optimale Versorgung zu gewährleisten, braucht es eine gute Absprache der Berufsgruppen untereinander. Getragen werden sollte der Dialog von einem respektvollen Miteinander. Das erfordert die Bereitschaft und die Fähigkeit aller Berufsgruppen, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken und voneinander zu lernen.