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Wer nichts weiß, muss wirklich alles glauben?

Die Krux mit der EBM: Ist der Patient ein Mensch oder ein „Fall“?


foto: bildagentur waldhäusl

Eine betont kritische Betrachtung hinsichtlich der EBM (Evidence Based Medicine) könnte etwa Folgendes enthalten: Es handelt sich um ein System von medizinischem Sicherheitswissen, das zunächst entwickelt wurde, um in den USA die qualitativ völlig unterschiedlichen Ausbildungsniveaus an medizinischen Universitäten doch noch auf ein erträgliches Niveau zu bringen – nicht zuletzt ein Bollwerk gegen die mannigfachen juristischen Jagdgesellschaften, die in den USA wie „Bluthunde“ nach Ärztefehlern suchen. Ein anderer Aspekt könnte sein, Studienergebnisse der US-Top-Universitäten – sie sind alle von privaten Geldgebern vorwiegend aus der Pharmaindustrie abhängig – im Sinne einer medizinischen Globalisierung dem Rest der Welt aufzuzwingen. Ein System des Wissens, das grundsätzlich Studienergebnisse beschwört und dabei den einzelnen Patienten in all seinen genetischen und lebensumständlichen Unterschieden auf diesem Planeten zahlendominiert in den Hintergrund drängt, muss zum Widerspruch herausfordern. Ist der Patient nun ein Mensch oder ein „Fall“? Am „39. Internationalen Pädiatrischen Symposium“, das kürzlich in Obergurgl stattfand, referierte zum Konfliktthema „EBM vs. Erfahrung“ PD Dr. Peter Burgard aus Heidelberg.

Vertrauen ist gut, Kontrolle besser

Es lohnt, sich mit den Hintergründen der EBM intensiver zu beschäftigen, obwohl gleich zu Beginn eine wichtige Anmerkung nicht fehlen darf. Tatsächlich ist ein erhebliches statistischen Wissen nötig, um Studien richtig zu lesen. Wer das nicht kann und sich darauf beschränken muss, die Conclusio oder den Abstract eben vertrauensselig zu glauben, ist letztlich verraten und verkauft. Zu unterschiedlich sind die Studienqualitäten und nicht immer sind diese Unterschiede sofort erkennbar. Gleichwohl in welchen internationalen Journalen diese Studien veröffentlicht wurden.
Praxisorientierte Umsetzungsformen der EBM und ihrer Datenfülle sind häufig die so genannten Leitlinien, die früher stets nationalen Ursprungs waren, heute aber im deutschsprachigen Europa vermehrt auf einem Konsensus im deutschen Sprach- und Kulturraum beruhen – also Deutschland, Österreich und die Schweiz umfassen. Eine durchaus positive Entwicklung, denn „drei Länder sehen sehr wahrscheinlich mehr als zwei“.
Burgard zum Spannungsfeld sehr pragmatisch: „Gute Ärzte nutzen sowohl klinische Expertise als auch die beste verfügbare externe Evidenz, da keiner der beiden Faktoren alleine ausreicht. Ohne klinische Erfahrung riskiert die ärztliche Praxis, durch den bloßen Rückgriff auf die Evidenz ‚tyrannisiert‘ zu werden, da selbst exzellente Forschungsergebnisse für den individuellen Patienten nicht anwendbar oder unpassend sein können. Andererseits kann ohne das Einbeziehen aktueller externer Evidenz die ärztliche Praxis zum Nachteil des Patienten leicht veraltetem Wissen folgen.“
Burgard selbst war und ist Teilnehmer an verschiedenen Leitlinienerstellungsgruppen im Bereich Pädiatrie und weiß, wovon er spricht. Diese Erfahrung lässt ihn an die Notwendigkeit des medizinischen Wissensskeletts EBM glauben.

Der Wert von Leitlinien

Wovon also sprechen wir, wenn wir den Terminus Leitlinien bemühen? Und sofort wird es schwierig, da englischsprachige Definitionen in sich die Falle bergen, dass ein und dasselbe Wort unterschiedlich übersetzt werden kann und/oder in einer andern Sprach- und Denkkultur hinsichtlich der Bedeutung eine andere Nuancierung erhält. Vereinfacht zusammengefasst möchten Leitlinien den Ärzten über systematisiert entwickelten aktuellen Kenntnisstand die Möglichkeit vermitteln, in bestimmten klinischen Situationen klar strukturierte Entscheidungen zu treffen, die die Versorgung der Patienten verbessern. Es schleicht sich die provokante Frage ein ... „Leitlinien auswendig lernen, anstatt selbst zu denken?“ Eine Philosophie, gegen die sich zu sträuben vermutlich proportional mit der Zahl der Berufsjahre ist – oder wäre.
Eine Arbeit aus 2012 (Ansari S. et al) identifiziert 27 Kriterien, die als Voraussetzung oder wissenschaftliche Begleitmusik zur Erstellung von Leitlinien dienen. Hier noch ein kleines Detail: Leitlinien sind de facto nur Empfehlungen, also eine Art „Wegmitte“, während Richtlinien einer Anweisung gleichzustellen wären. Der Teufel sitzt immer im Detail versteckt. Der Weg zum Ergebnis der Leitlinie führt also über einen Parcours mit 27 Hürden.

Andere Disziplinen mischen mit

Längst haben sich auch andere akademische Fächer wie die Soziologie in das Thema EBM eingebracht. So postuliert der Soziologe W. Vogd:

  • EBM ist ein Programm der Medizinrationalisierung.
  • Das Programm verändert das Fach und seine Professionen.
  • Das Programm verändert die Inszenierung von Wissen.

Wenn anschließend von der „Professionalisierung der Medizin“ die Rede ist, drängt sich die bange Frage auf: „War die Medizin bislang unprofessionell?“ oder bedeutet „individuelle Entscheidung = unprofessionelle Entscheidung“? Tatsächlich ist dem Denkmuster nicht wirklich einfach zu folgen, denn es behauptet weiter, der Professionelle sei autonom, während die Leitlinien heteronom seien. Und das wiederum ist so klar, dass man es eigentlich nicht gesondert erwähnen muss. Einmengung von nichts ahnenden Fremdkörpern in eine mitunter sehr enge Welt, in der es immer wieder auch um Leben oder Tod geht?
Verlässt man die Wirren gut gemeinter zeitgenössisch-soziologischer Aufarbeitung der medizinisch-wissenschaftlichen Wissensgenerierung, stellt sich die entscheidende Frage: Was hat die EBM gebracht? Studienzahlenterror und globalisierte Wissensklammer? Oder Sicherheit und Fortschritt? Burgard dazu: „Es geht zunächst um die Diskussion der Endpunkte einer Studie unter der Beachtung von Störfaktoren wie Bias oder Confounder.“
Kurz zu den Begriffen. Bias meint einen statistischen Messfehler oder einen Verzerrungseffekt. Confounder beschreibt einen Störfaktor, der mit zwei Faktoren der Beobachtung, nämlich der Exposition sowie dem Endpunkt, in Beziehung steht. Eine Variable, die das Auftreten eines Risikofaktors und den beobachteten Endpunkt gleichzeitig mitbestimmt. Wiki sei Dank!
Und – das wird vielen wenig Freude bereiten zu lesen – es geht um Statistik, wobei sich bereits bei einfachen Begriffen wie „Absolute Risiko-Reduktion“ (ARR) und „Relative Risiko-Reduktion“ (RRR) manche Stirn in Falten legt.
Burgard postuliert: „Man kann nicht nur einfach lesen, sondern sollte in der Lage sein, das Gelesene auch zu beurteilen“, und erzählt aus der Praxis die Geschichte von einer Arbeitsgruppe, in der Klinikchefs wissenschaftliche Studien evaluieren sollten. Was haben sie getan? Brav alle Zusammenfassungen aneinandergereiht und versucht, auf dieser Basis … Leider unzulänglich, denn Statistiklesen will gelernt sein!

Worin lieg nun die Veränderung, die die EBM herbeiführt?

Hier werden bereits die ersten verbliebenen Zweifler erleichtert ins EBM-Boot steigen, denn es geht um den Wechsel von theoretischer Plausibilität bzw. praktischem Erfolg zu biostatistischer Überprüfung. Schon wieder dieses Wort Statistik. Aber bereits nach kurzem Nachdenken kann man sicher sein, dass man gegebenenfalls lieber nachprüfbaren Zahlen ausgeliefert sein möchte als der persönlichen Erfahrungsmeinung eines „Professors für alles“. Der momentane Nachteil: Alle, auch viele Erfahrene, müssen letztlich zurück auf die Schulbank, um dieses Statistikwissen zu erwerben oder sich wenigstens Grundlagen anzueignen.
Wie wichtig das ist, zeigt ein Blick in die Publikationsrealität. Wir wissen, Meta-Analysen sind die Überblicksauswertungen mehrerer Studien zu einem Thema. Gut. Wenn das im BMJ oder im NEJM veröffentlicht ist, können wir den Ergebnissen ja Glauben schenken. Nein! Das Problem: Meta-Analysen enthalten in den wenigsten Fällen Bewertungen des Evidenzgrades der ausgewerteten Studien. Ja, leider schon wieder ein wichtiger statistischer Begriff. Soll heißen, dass Studien mit geringem Evidenzgrad (also geringer wissenschaftlicher Aussagekraft = Empfehlungsstärke), die plötzlich in einer Meta-Analyse gleichsam „mitfaschiert“ werden, eine erhebliche wissenschaftliche Aufwertung erfahren und die Endergebnisse dieser Meta-Analysen mit unsauberen Werten, Bias oder Confoundern verwässern. Aber es geht noch weiter. Ein aktueller Hit sind „Meta-Meta-Analysen“ – also die Auswertung mehrerer Meta-Analysen in einer Überblicksarbeit. Noch spannender, denn wenn – und das kommt häufig vor – die bearbeiteten Meta-Analysen allesamt immer wieder dieselben (möglicherweise minderwertigen) Studien zum Inhalt haben, werden dieselben Studien durch die Meta-Meta-Analyse immer weiter fokussiert, bis endlich fragwürdige Studienergebnisse solcherart zu wissenschaftlicher Schärfe aufsteigen.

Daten unter Verschluss

Daher an dieser Stelle die Wiederholung dieses so wichtigen Zitates: „Man kann nicht nur einfach lesen, sondern sollte in der Lage sein, das Gelesene auch zu beurteilen.“ Eine klare Empfehlung, sich auf den Weg zu machen, um heute Benötigtes nachzuholen. Aus gutem Grund. Unter den Blinden ist der Einäugige König, unter den Einäugigen aber ist der Blinde der Dumme, dem man alles erzählen kann. Und es gibt in der Medizinwelt Interessensströmungen, die das aktiv nützen. Das war schon immer so.
Viele wissen bis heute etwa nicht, was der Begriff „Data on file“ bedeutet, der früher so oft in den Literaturhinweisen von Pharma-Werbefoldern zu lesen war. Sinngemäß steht das für „Daten unter Verschluss“, also Studien, die nie veröffentlicht und damit öffentlich zugänglich gemacht wurden. In der Regel aus gutem Grund, weil sie nicht zu Ende geführt wurden, weil die Ergebnisse zum Teil nicht erfreulich waren, weil man Plausibilitäten verbergen wollte, weil die Qualität und damit die Glaubwürdigkeit insgesamt mangelhaft waren. Generationen von Pharmamanagern haben mit diesem Marketingtrick gearbeitet. Für die oberflächlich Kritischen war ja ein Literaturhinweis formal vorhanden. Was „Data on file“ tatsächlich bedeutete oder bedeutet, wissen auch heute viele noch (immer) nicht.
Kommt man in Sachen EBM also zur Frage nach dem Nutzen, dann beantwortet Burgard das in Bezug auf die klinische Realität folgendermaßen: Wissenschaftliche Professionalität darf als demonstrative Offenlegung des noch unsicheren Status des Wissens scheitern. Klinische Professionalität darf hingegen nicht scheitern. Daraus entwickelt sich die Notwendigkeit der Rolle eines autonom Professionellen, der die Lücken zwischen beiden Welten schließt. Gleichsam als Kanalisierung des Wissens zwischen theoretischen Grundlagen und klinischen Realitätszwängen. Damit hat EBM enorme Auswirkungen auf das Selbstverständnis der medizinischen Profession. Einerseits verschiebt sich das Kräfteverhältnis zu Ungunsten der Ärzteschaft, weil neue Herausforderungen wie Dokumentationsprotokolle oder Qualitätsmanagementprogramme zu bewältigen sind. Andererseits ergibt sich daraus eine Handlungsimmunisierung, denn Leitlinien schützen, wenngleich sie zumindest theoretisch einen Autonomieverlust ärztlichen Handelns zugunsten eines statistischen Mittelwertes darstellen.
Allerdings bietet EBM eine solide Basis, mit deren Hilfe die Medizin eine für andere nachvollziehbare und in diesem Sinne verständliche Ordnung präsentieren kann. Transparenz des Handelns anstatt Mythologie des weißen Mantels. Letztlich also mehr Vorteil als Nachteil? Vermutlich schon, denn ohne eine kompetente Schnittstelle zwischen theoretischer Wissenschaft und klinischer Praxis wird es nicht gehen. Weder Studien noch Leitlinien behandeln eo ipso. ÄrtzInnen verbinden also die beste verfügbare Evidenz mit ihrer klinischen Expertise. In diesem Sinne passt in diese neue, sich stark wandelnde Medizinwelt abschließend das Zitat des Nobelpreisträgers Daniel Kahnemann aus seinem Bestseller „Thinking fast, thinking slow“: „Intuition is nothing more than recognition“ – Intuition ist nichts anderes als Erkenntnis.

Statistik will gelernt sein

Relative und absolute Risikoreduktion sind Maße, um die Wirksamkeit einer (neuen) Therapie im Vergleich zu einer anderen Therapie zu beschreiben. Sie beziehen sich auf die Änderung des Relativen Risikos bzw. des Absoluten Risikos.
Die „Absolute Risikoreduktion“ (ARR – absolute risk reduction) bezeichnet das absolute Ändern eines Ereignisses durch eine Intervention bzw. Behandlung oder auch durch ein Verhalten bezogen auf alles Untersuchte.
Eine Änderung der Mortalität von 2 % auf 1,6 % ist eine Änderung des Absoluten Risikos um 0,4 %.
Die „Relative Risikoreduktion“ (RRR = relative risk reduction) beschreibt, um wie viel Prozent das Risiko durch eine Intervention verringert wird. RRR = 1-RR
Eine Änderung der Mortalität von 2 % auf 1,6 % ist eine Änderung des Relativen Risikos um 20 %.