Wer entscheidet Gesundheit?
Das Europäische Forum Alpbach 2013 stand heuer unter dem Generalthema „Erfahrungen und Werte“ und skizzierte das Spannungsverhältnis zwischen den gesellschaftlichen Entwicklungen und unseren Grundwerten und Erwartungshaltungen, als wichtigster Antriebsmotor unseres Handelns. Die Konsequenzen für die Gesundheitspolitik wurden ausführlich diskutiert.

Dr. Robin Rumler, Geschäftsführer Pfizer Österreich und Präsident der PHARMIG, der Interessenvertretung der österreichischen
Die richtigen Entscheidungen in Bezug auf Gesundheit und Krankheit zu treffen, ist komplex und erfordert die Einbeziehung aller Beteiligten. Die diesjährigen Alpbacher Gesundheitsgespräche haben abgeleitet aus „Erfahrungen und Werte“ die Frage „Wer entscheidet Gesundheit?“ in den Mittelpunkt gestellt. Wie stark bestimmen soziale Determinanten unsere Gesundheit? Wie können und müssen Prioritäten gesetzt werden? Inwieweit hilft die evidenzbasierte Medizin Entscheidungen zu treffen? Woran orientieren sich medizinische Forschung, ärztliche Behandlung und die Gestaltung des rechtlichen und politischen Rahmens? Wie kann Gesundheitskompetenz für die und mit den Patienten geschaffen werden? Welche Rolle spielt Kommunikation in der Medizin? Diese Fragen wurden in bewährter Form im Plenum eingeleitet und anschließend intensiv in vier Themenworkshops diskutiert. Die Ergebnisse – konkrete Forderungen an die Politik – waren Grundlage eines Votings, bei dem alle Experten und Teilnehmer der Gesundheitsgespräche ihre Prioritäten bekanntgeben konnten. Das Ergebnis zeigte sich in sechs Top-Themen,
die schließlich am Ende der mehrtätigen Diskussionen den Ministern Stöger und Hundstorfer präsentiert wurden. „Gesundheitspolitik mag als mühsam empfunden werden, denn anders als in anderen politischen Bereichen sind der Erfolg und die Gewinnperspektive scheinbar geringer und erfordern permanent mehr Investitionen. Kaum ein anderer Politikbereich verändert sich mit derartiger Dynamik wie der Gesundheitssektor und berührt gleichzeitig so viele Ressorts. Nicht umsonst steht die Forderung ‚Health in all Policies‘ ganz oben, denn Gesundheitspolitik kann nur funktionieren, wenn sie in allen Bereichen verankert ist“, stellt Univ.-Prof. Dr. Ursula Schmidt-Erfurth, Leiterin der Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie und Vizepräsidentin des Europäischen Forums Alpbach, zu Beginn fest. „Wie in allen politischen Bereichen müssen auch hier Entscheidungen getroffen werden, doch wer entscheidet? Die Player sind hinreichend bekannt, es sind Ärzte, Patienten, Kammern, Ministerien, Krankenkassen, Wissenschaftler, die Industrie und noch eine Reihe weiterer“, ergänzt Schmidt-Erfurth. Es ist daher nötig, Wissen zu schaffen, Wissen zu vermitteln, Wissen anzuwenden und Wissen umzusetzen. Aus diesen Anforderungen haben sich auch die vier Arbeitskreise abgeleitet, in denen in Kleingruppen intensiv diskutiert wurde.
„Die Frage, wer Gesundheit entscheidet, wird je nach Anwendungsfeld sicher unterschiedlich zu beantworten sein – ob Forschung, Kommunikation, Arzt, Patient, Politik oder Krankenkassen. Im Zuge der Arbeitsgruppendiskussionen haben sich dabei jedoch einige allgemeingültige, wichtige Erkenntnisse herauskristallisiert, die sich in den Forderungen an die verantwortliche Politik widerspiegeln: Das System muss eine gemeinsame Sprache sprechen und braucht stärkere Kooperation zwischen den Gesundheitsberufen“, fasst Dr. Robin Rumler, Geschäftsführer Pfizer Österreich und Präsident der PHARMIG, der Interessenvertretung der österreichischen pharmazeutischen Industrie, die Ergebnisse aus seiner Sicht zusammen. Dass die Gesundheitskompetenz der Menschen gesteigert werden muss, lag bei allen Gesprächen auf der Hand. „Es geht darum, besser zu verstehen, was ein gesunder Lebensstil bedeutet, und in der Folge auch darum, was es heißt, durch sein eigenes Verhalten beizutragen, Kosten zu reduzieren“, so Rumler. Dass in Alpbach das Rad nicht neu erfunden wurde, zeigen die vielen Parallelen zu den bestehenden zehn Rahmengesundheitszielen der Bundesgesundheitskommission, an der sich ja auch der Bundeszielsteuerungsvertrag orientiert. Jetzt gilt es, diese Ziele rasch mit konkretem Inhalt zu füllen, denn Handlungsfelder gibt es genug.
Wissen schaffen
„Nicht aus Adams Rippe, sondern aus einem Stück Haut haben Forscher in Oregon erstmals genetisch identische Embryonen für die Stammzellenerzeugung hergestellt“, bringt Schmidt-Erfurth ein aktuelles und hochbrisantes Beispiel. Darf Wissenschaft soweit gehen? Gerade wenn medizinische Durchbrüche das Erwartete bei Weitem übertreffen, spielen Emotionen einen große Rolle und die Forscher haben ihre Erkenntnisse gleichsam in einer „Verteidigungsschrift“ formuliert, um nicht in das Kreuzfeuer öffentlicher Kritik zu gelangen. Andererseits wird – von derselben Öffentlichkeit – durchaus gutiert, dass der technologische Fortschritt ebenso tief in die menschliche Schöpfung eingreift. Wer entscheidet also, ob die synthetischen Medikamente anders zu bewerten sind als etwa die Entwicklung in der Computertomografie? Die Gesundheitsversorgung und ihre Wirksamkeit werden auch durch den Stand der Forschung geprägt. In diesem Zusammenhang stellte sich die Frage, wer bestimmt, woran und mit welchem Ziel geforscht wird und wo die Grenzen der Forschungsfreiheit durch Ethik, Wirtschaft oder Politik determiniert werden. Die Ergebnisse des Arbeitskreises waren die Forderung nach Forschungsvernetzung für ärztliche und nicht-ärztliche Gesundheitsberufe als strategisches Ziel und Förderkriterien, das Errichten eines „National Institute of Health“ zur Koordination der Forschungsvorhaben und zur Verbesserung der Qualität der gesundheitsspezifischen Forschung.
Wissen vermitteln, Wissen anwenden
In diesem Arbeitskreis unter der Leitung von Dr. Reinhold Glehr, dem Präsidenten der Österreichische Gesellschaft für Allgemeinmedizin (ÖGAM), wurde die Rolle der Kommunikation zwischen Arzt und Patient, Wissenschaft und Laien unter die Lupe genommen. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie medizinisches Wissen verständlich an Laien kommuniziert werden kann und welche Information ein Patient benötigt, um angemessene Behandlungsentscheidungen treffen zu können. „So wie der kompetente Staatsbürger der Garant für das Funktionieren der Demokratie ist, so sind kompetente Ärzte und informierte Patienten die Basis für ein gut funktionierendes Gesundheitssystem“, ist Schmidt-Erfurth überzeugt. Für die gelungene Kommunikation in der Medizin wurden im Arbeitskreis „Wissen vermitteln“ folgende Forderungen als zentral evaluiert: Die Kommunikationsfähigkeit muss als Knock-out-Kriterium für alle Gesundheitsberufe und als Lernziel in der Ausbildung integriert sein. Ein Ende der Eitelkeiten soll die Kooperation zwischen den Gesundheitsberufen als gesundheitspolitisches Ziel einleiten und eine interdisziplinäre Zusammenarbeit fördern.
Die Förderung der Gesundheitskompetenz wurde nicht nur hier großgeschrieben, sondern auch im Arbeitskreis „Wissen anwenden“, der sich mit der Frage der Prioritäten und Entscheidungsträger auseinandersetzte. Hier wurden die Grenzen des Machbaren aus der Sicht der Verfügbar- und Leistbarkeit ebenso diskutiert wie das Setzen von Prioritäten und ethischen Grenzen. Am Ende stand die Frage, wer überhaupt diesen Diskurs führen darf und soll und schließlich Entscheidungen treffen muss, aber auch wie all diese Informationen fach- und sachgerecht an medizinische Laien vermittelt werden können. Die Forderungen an die Politik aus diesem Arbeitskreis waren ein sichtbarer Qualitätssprung in der Gesundheitskompetenz, die Institutionalisierung einer Ethikberatung in Krankenhäusern sowie die Installierung eines entscheidungsfähigen Players in Finanzierungsfragen.
Wissen umsetzen
Last but not least stellte sich auch in Alpbach die Frage nach den Kosten für das gesamte System. Welchen Wert Gesundheit hat, was sie kosten darf und wie eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik – unter dem strapazierten Stichwort „Health in all Policies“ – aussehen kann, wurde im Arbeitskreis „Wissen umsetzen“ besprochen. Dazu gehören Fragen der Evidenzbasis für Entscheidungen, aber auch der Zahl der Beschäftigten im Gesundheitswesen. Mehr Geld für weniger Leistung kann nach Ansicht der Experten nicht die Lösung sein, daher waren die Forderungen, „Health in all Policies“ auch zu leben, Bürger mehr in das System einzubringen und unabhängige Public Health-Experten aufzubauen. „Die Themenstellungen waren insgesamt überaus spannend und ich erhoffe mir, dass die vielen erarbeiteten Vorschläge der Experten vonseiten der Politik und der Verantwortlichen im Gesundheitswesen nicht nur vor der Nationalratswahl große Aufmerksamkeit bekommen, sondern dass diese in der nächsten Zeit auch in Ergebnisse umgesetzt werden“, so Dr. Jan Oliver Huber, Generalsekretär der Pharmig, die auch heuer wieder Mitveranstalter war, abschließend.
Die Top 6 Themen und ihre Voting-Ergebnisse
74,60 % Ende der Eitelkeiten – Kooperationen zwischen Gesundheitsberufen als gesundheitspolitisches Ziel
74,10 % Qualitätssprung in der Gesundheitskompetenz
71,70 % „Health in all Policies“ in der laufenden Gesundheitsreform tatsächlich leben
68,20 % Stärkung der Bürger durch mehr Einblick in das System
59,70 % Kommunikationsfähigkeit als Knock-out-Kriterium für alle Gesundheitsberufe
57,90 % Qualität der gesundheitsspezifischen Forschung verbessern


