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Wenn Schlafmangel zum Problem wird

Diagnostik und Therapie der primären Insomnie


Dr. Anastasios Konstantinidis

Autor: Dr. Anastasios Konstantinidis
Ärztlicher Leiter, Zentrum für seelische Gesundheit MULDEnstraße, Linz; Klinische Abteilung für Biologische Psychiatrie
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Währinger Gürtel 18-20, 1090 Wien
Telefon: 01/40400-35060
anastasios.konstantinidis(at)meduniwien.ac.at

Insomnie kommt in der Allgemeinbevölkerung relativ häufig vor. Chronische insomnische Beschwerden treten bei etwa zehn Prozent der Allgemeinbevölkerung der westlichen Industrienationen auf, wobei ein Drittel der Betroffenen an einer primären Insomnie leidet. Insomnische Symptome, die nicht spezifisch für eine bestimmte psychische oder organische Erkrankung sind, können sowohl als komorbides als auch eigenständiges Krankheitsbild auftreten und chronisch verlaufen. Insomnie führt zu einem deutlichen Lebensqualitätsverlust der betroffenen Person und ist mit einer eingeschränkten Funktionsfähigkeit im privaten und beruflichen Bereich sowie mit einer erhöhten Tagesmüdigkeit, kognitiven Einschränkungen, Stimmungsschwankungen, körperlichen Symptomen und einer erhöhten Inanspruchnahme medizinischer Leistungen assoziiert.

Diagnostik nach ICD-10

Laut den aktuellen europäischen Diagnose-Klassifikationskriterien (ICD-10) ist die Erfüllung folgender Kriterien zur Diagnostizierung einer nichtorganischen/primären Insomnie notwendig:

  1. Klagen über Einschlafstörungen, Durchschlafstörungen oder eine schlechte Schlafqualität
  2. Die Schlafstörungen treten wenigstens dreimal pro Woche mindestens einen Monat lang auf.
  3. Es besteht ein überwiegendes Beschäftigtsein mit der Schlafstörung und nachts sowie während des Tages eine übertriebene Sorge über deren negative Konsequenzen.
  4. Die unbefriedigende Schlafdauer oder -qualität verursacht entweder einen deutlichen Leidensdruck oder wirkt sich störend auf die Alltagsaktivitäten aus.

Vor der Diagnosestellung einer primären Insomnie ist der Ausschluss einer möglichen zugrundeliegenden organischen oder psychiatrischen Störung notwendig. Dafür ist eine ausführliche organmedizinische, aber auch psychiatrische Untersuchung erforderlich. Elektrokardiogramm, die Erhebung von Routinelaborparametern (wie Blutbild, Entzündungswerte, Schilddrüsen-, Leber- und Nierenwerte) und unter Umständen die Durchführung eines Elektroenzephalogramms sind zum Ausschluss von möglichen organischen Ursachen zu empfehlen. Obwohl Insomnie als Symptom bei mehreren psychiatrischen Erkrankungen vorkommen kann, sollte man besonders nach dem Vorliegen von psychiatrischen Störungen, welche mit deutlichen Störungen der Schlafkontinuität einhergehen (wie zum Beispiel Depression, Demenz, Schizophrenie, aber auch Alkoholabhängigkeit), die Patienten explorieren. Nicht zu vernachlässigen sind die Störungen des Schlafrhythmus, die aufgrund der Einnahme von Medikamenten eintreten können (unter anderem Antihypertensiva, Antibiotika wie zum Beispiel Gyrasehemmer; Hormonpräparate wie zum Beispiel Thyroxin oder Steroide; Diuretika; antriebssteigernde Antidepressiva). Unabhängig von Medikamenten können zusätzlich erhöhter Koffein- oder Nikotinkonsum zur Entstehung der Insomnie beitragen.

Schlafanamnese

Einen zentralen Punkt bei der Diagnostik stellt die Erhebung der Schlafanamnese des Patienten dar. Diese hat auch eine große Relevanz bei der Beurteilung eines möglichen Therapieerfolges jeglicher therapeutischer Maßnahmen. Bei der Schlafanamnese sollten folgende Informationen erhoben werden: Schlafmenge; mögliche Fehler bei der Schlafhygiene (unter anderem häufiger Tagschlaf, Alkoholkonsum vor dem Schlafengehen; mangelnde oder schlecht verteilte körperliche Aktivität; Einnahme von schweren Mahlzeiten am Abend) und die Schlaf-Wach-Rhythmik. Die Durchführung einer Polysomnografie ist nicht routinemäßig im Rahmen der Diagnostik von Insomnien indiziert. Sie soll aber bei chronischen insomnischen Beschwerden, welche trotz mehrerer kombinierter Therapieversuche (kognitive Verhaltenstherapie (VT) und Gabe von mindestens zwei schlaffördernden Substanzen über einen adäquaten Zeitraum) nicht remittieren, durchgeführt werden.

Therapie der primären Insomnie

Zur Behandlung der primären Insomnie stehen sowohl pharmako- als auch psychotherapeutische Interventionen zur Verfügung. Obwohl Medikation zu einer raschen Linderung der insomnischen Beschwerden führen kann, adressieren psychotherapeutische Ansätze eher die kausalen Zusammenhänge und können somit einen längerfristigen Erfolg garantieren. Bei der medikamentösen Therapie haben sich in der klinischen Praxis einerseits der Einsatz von Benzodiazepin-Rezeptor-Agonisten (BZA) sowie die Verwendung von sedierenden Antidepressiva (AD) und Antipsychotika (AP) bewährt.
Der Einsatz von VT-Interventionen kann zu einer deutlichen Verbesserung der Schlafkontinuität führen. Die hiermit erzielten positiven Effekte können sogar längerfristig (bis zu drei Jahren) erhalten bleiben. Es gibt nur wenige Studien, in denen eine Pharmakotherapie mit einer VT direkt verglichen wurde. Bei diesen wenigen Studien wies die VT einen stärkeren Effekt auf die Einschlafzeit im Vergleich zur Pharmakotherapie auf. Bezüglich der nächtlichen Wachzeiten und der Gesamtschlafzeit unterscheiden sich die beiden Therapieansätze aber in ihrer Wirksamkeit nicht. VT-Interventionen wie Psychoedukation, Vermittlung von schlafhygienischen Regeln, Erlernung von Entspannungsmethoden, Stimuluskontrolle oder paradoxe Intervention können mit der Anwendung einer medikamentösen Therapie kombiniert werden. In der Studie von Morin et al., 2009, zeigte eine Kombinationstherapie mit VT und Zolpidem für einen Zeitraum von sechs Wochen einen besseren therapeutischen Effekt als die Anwendung jeder Therapieform allein.

BZA in der Kurzzeitbehandlung

Derzeit gibt es sechs publizierte Metaanalysen (MA) zur Effektivität von BZA in der Kurzzeitbehandlung (maximal vier Wochen) der Insomnie. Obwohl frühere MA einen signifikanten klinischen Effekt für die BZA im Vergleich zum Placebo aufzeigen, zeigt eine aktuelle MA, dass die Hauptwirkung dieser Substanzen nur auf der Reduktion der Einschlaflatenz beruht. Eine bessere Effektivität der neueren Hypnotika, der sogenannten Z-Substanzen (Zolpidem, Zopiclon, Zaleplem), im Vergleich zu den klassischen Benzodiazepin-Hypnotika konnte nicht gefunden werden. Die derzeit existierenden Daten zeigen auch eine Langzeiteffektivität dieser Substanzen auf, wobei aber die Datenbasis dafür sehr gering ist. Man sollte auch mögliche Probleme, die mit einer Langzeitanwendung dieser Substanzen verbunden sind, besonders berücksichtigen (unter anderem Missbrauch, Abhängigkeit, paradoxe Rebound-Symptomatik beim Absetzen).
Obwohl nicht für die primäre Insomnie zugelassen, zeigen pharmakoepidemiologische Daten, dass in der Behandlung von primären Insomnien niedrigdosierte sedierende AD sowohl in den USA wie auch in Europa breite Verwendung finden. Die MA von Buscemi et al., 2007, welche die derzeit einzige existierende MA zum Thema ist und auf der Analyse der Daten von acht Originalstudien beruht, untersuchte die therapeutischen Effekte von AD bei Insomnie. Insomnie. Im Vergleich zu den BZA fand sich eine etwas geringere Evidenz für die Wirksamkeit sedierender AD. Doxepin, Trazodon und Trimipramin zeigen aus der derzeitigen Studienlage eine signifikante Besserung der insomnischen Symptomatik auf. Zusätzlich soll aber auch die in der Praxis oft eingesetzte antidepressive Substanz Mirtazapin erwähnt werden. Unabhängig von der zentralen Frage der therapeutischen Effektivität ist das Berücksichtigen des Auftretens von möglichen unerwünschten Wirkungen bei einer Einstellung auf AD essenziell. Besonders bei älteren Patienten ist dies relevant, da viele sedierende AD ein Potenzial für kardiovaskuläre, gastrointestinale oder urogenitale Nebenwirkungen haben können. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Effekte der sedierenden AD signifikant denen von Placebos überlegen sind. Die primäre Wirkung scheint auf einer Verkürzung der Wachperioden und nicht auf einer Verkürzung der Einschlafzeit zu beruhen.

Datenlage mangelhaft

Als mögliche Alternative könnte der Einsatz von AP mit sedierender/schlaffördernder Wirksamkeit angedacht werden. In der klinischen Praxis wird besonders bei älteren Patienten mit meistens begleitenden Verhaltens­auffälligkeiten wie zum Beispiel bei einer Demenz die Behandlung mit AP wie Risperidon, Quetiapin oder Olanzapin durchgeführt. Mehrere Arbeiten mahnen aber vor einer unkritischen und unkontrollierten Verschreibung dieser Substanzen, nicht zuletzt auch aufgrund des damit verbundenen erhöhten Mortalitätsrisikos. Erneut soll darauf hingewiesen werden, dass Studien über die Anwendung von AD oder AP bei Patienten mit primärer Insomnie weiterhin vollständig fehlen.
Melatonin zeigt einen positiven Effekt bei der Behandlung von zirkadianen Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen. Bezüglich der primären Insomnie fand sich bei den bis heute publizierten MA kein Effekt. 2007 kam es zur europäischen Zulassung von einem Melatonin mit verzögerter Freisetzung zur Behandlung von primärer Insomnie bei Patienten über 55 Jahren. Bei jüngeren Patienten zeigte diese Substanz keine ausreichende Wirksamkeit.
Obwohl eine große Anzahl von Phytopharmaka bei der Behandlung von Insomnien eingesetzt wird bzw. von den Patienten als Selbstmedikation benutzt wird, liegen Daten in Form von MA nur für Baldrian vor. Aufgrund einer jedoch niedrigen methodischen Qualität der bereits vorliegenden Studien kann eine Bewertung zur Wirksamkeit der Substanz nicht vorgenommen werden.

Für die Praxis

Insomnische Beschwerden treten sehr häufig auf. Chronische Formen der primären Insomnie kommen bei circa drei Prozent der Bevölkerung vor. Die Kombination einer medikamentösen Therapie mit VT-Interventionen kann zu einer raschen Linderung der Beschwerden führen. Derzeit ist der längerfristige Einsatz einer medikamentösen Therapie bei der Insomnie nicht ausreichend untersucht. Aufgrund von möglichen Abhängigkeitseffekten soll die Therapie mit BZA nicht den Zeitraum von vier Wochen überschreiten. Beim Einsetzen von sedierenden AD und AP soll an damit verbundenen möglichen unerwünschten Wirkungen und an die fehlende Zulassung in diesem Indikationsgebiet gedacht werden. Der Einsatz von Melatonin oder Phytopharmaka kann bei manchen Patienten von Vorteil sein. Bei längerfristiger Persistenz der Insomnie und keinem Ansprechen auf verschiedene Therapieansätze soll eine polysomnografische Untersuchung durchgeführt werden.

Literatur beim Verfasser