Von der Fremd- zurück zur Selbstbestimmung
Krebs ist eine Erkrankung, die den Blick der Betroffenen – Patienten und ihrer Angehörigen – auf die Zukunft drastisch verändert. Das Lernen, mit dieser neuen Situation umzugehen, ist harte Arbeit.


Univ.-Prof. Dr. Alexander Gaiger; Klinische Abteilung für Hämatologie und Hämostaseologie, Innere Medizin I am Wiener AKH
Diese Arbeit muss noch dazu in einer Zeit geleistet werden, in der Arzttermine, Untersuchungen oder chirurgische Eingriffe auf den Patienten zukommen und das eigene Unwohlsein und die Verunsicherung diesen Prozess begleiten. Nach der Diagnose kommt die nächste Herausforderung: Welche Therapie ist notwendig, was sind die Wirkungen und Nebenwirkungen? Univ.-Prof. Dr. Alexander Gaiger von der klinischen Abteilung für Hämatologie und Hämostaseologie, Innere Medizin I am Wiener AKH, und Präsident der Österreichischen Akademie für onkologische Rehabilitation und Psychoonkologie (ÖARP) gibt Einblick in die Entwicklung von passenden unterstützenden Angeboten für die komplexen Herausforderungen, mit denen Krebspatienten konfrontiert werden.
Welche Rehabilitationsmöglichkeiten gibt es für Krebspatienten in Österreich?
Dank der Initiative der Pensionsversicherungsanstalt PVA gibt es eine Reihe von onkologischen Rehabilitationseinrichtungen, wie etwa das Ambulatorium Bad Schallerbach, das Therapiezentrum Rosalienhof in Bad Tatzmannsdorf, das Kur- und Rehabilitationszentrum Althofen in Kärnten sowie den Sonnberghof in Bad Sauerbrunn, Burgenland. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie haben spezielle Angebote, die sich auf die Reha von onkologischen Patienten beziehen und die unterscheidet sich grundlegend von allen anderen Reha-Angeboten.
Warum benötigen wir eine spezielle onkologische Rehabilitation?
Die Notwendigkeit einer speziellen onkologischen Rehabilitation ergibt sich durch die Besonderheiten der Krebserkrankung, ihrer Therapie und reaktiven Veränderungen, die sie von anderen chronischen Erkrankungen oder Unfällen unterscheidet.
- Die Ursache der Erkrankung ist häufig unbekannt.
- Das autonome Wachstum der Krebszellen führt zu einer Zerstörung anderer Organe und schließlich – ohne Therapie – in der Regel zum Tod.
- Die gesellschaftliche Tabuisierung der Krankheit und ihrer Therapie – Stigma Chemotherapie –, zeigt sich auch in der Sprache: zum Beispiel „bösartige Erkrankung“, „schlechte versus gute Zellen“. Mit Ausnahme einiger Infektionskrankheiten ist diese Tatsache bei anderen Krankheiten in dieser Form nicht zu finden.
- Eine weitere Besonderheit der Erkrankung sind die lange Therapiedauer, der häufige Einsatz von Kombinationstherapien (Chemotherapie, Strahlentherapie, Chirurgie, Immuntherapie, Hormontherapie, „targeted therapies“) sowie komplizierte Therapieschemata (Induktions-, Konsolidierungs-, Erhaltungstherapien, neoadjuvante und adjuvante Therapien etc.).
- Es existiert eine große Zahl an therapieassoziierten Nebenwirkungen wie Übelkeit, Haarausfall, Möglichkeit der Infertilität, Blutbildveränderungen, Infektionsneigung, Stoma, Neuropathien, Chronic Fatigue Syndrome, Beeinträchtigung neurokognitiver Funktionen, Möglichkeit von Spätkomplikationen wie Zweittumoren, Metastasen etc.
- Die Ungewissheit, ob Heilung eingetreten ist, besteht oft bis zu fünf Jahre, fallweise sogar noch länger.
- Viele Betroffene haben oft das Gefühl, an der Erkrankung schuld bzw. beteiligt zu sein.
- Auch die Vielzahl an reaktiven Veränderungen stellt unterschiedliche Belastungen dar: die Last für das soziale Umfeld durch eine lange Krankheitsdauer, die Gefahr des sozialen Abstieges durch Verlust des Arbeitsplatzes, möglicher Einkommensverlust, posttraumatische Belastungsreaktionen und vieles mehr.
- Die Kombination dieser Faktoren erschwert die Krankheitsbewältigung.
Welche besonderen Schwerpunkte sind hier notwendig?
Entsprechend dem biopsychosozialen Krankheitsmodell bildet bei der onkologischen Rehabilitation ein interdisziplinärer Behandlungs- und Betreuungsansatz die Grundvoraussetzung für den Erfolg. Neben der medizinischen Trainingstherapie, Ernährungsberatung und Heilgymnastik stellt vor allem die Psychoonkologie einen elementaren Baustein dar. Darüber hinaus stellen die Behandlungen von Chronic Fatigue Syndrome, Polyneuropathien, neurokognitiven Veränderungen wichtige Schwerpunkte dar.
Welche Themen sind das konkret?
Eine Krebserkrankung betrifft nie nur den einzelnen Menschen: Sie hat auch Auswirkungen auf Angehörige, Familie – insbesondere die Kinder unserer Patienten – und Freunde und verändert die Beziehungen eines Patienten zu seiner Umwelt.
Ziel der Psychoonkologie ist die Verbesserung der Lebensqualität jedes einzelnen Patienten, indem die psychosozialen Ressourcen individuell gefördert werden. Es ist erstaunlich, wie viele Aufgaben Menschen mit Krebserkrankungen in einer Krisensituation bewältigen können, wie viel an Gesundheit und Lebenswillen in dieser Situation des ‚Sturzes aus dem Alltag’ mobilisiert werden, aber auch wie isoliert Menschen in ihrer Emotionalität in dieser Phase ihrer Krebserkrankung sind. Es ist kaum verwunderlich, das Betroffene nach der Akutphase – mit Verdacht, Diagnose, Therapie – erschöpft sind. Ärzte beschreiben immer wieder, wie überrascht sie sind, dass die Betroffenen fallweise wenig Emotionalität oder Freude über das Erreichte zeigen. Verstärkt wird dieser Prozess auch durch die Tendenz der Umgebung, die Patienten dazu anzuhalten, rasch wieder in den Alltag zurückzukehren. Genau diese Rückkehr ist aber oft nicht oder nur sehr schwer möglich. Denn das Leben und das Selbstverständnis körperlicher Integrität wurden erschüttert oder sind verloren gegangen.
Die Aufgabe, die sich den Betroffenen in dieser Phase stellt, ist eine Rekonstruktion eines neuen veränderten Selbstbildes, welches das Erlebte integriert. Genau hier setzt die onkologische Rehabilitation an. Die bisherigen Forschungsdaten zeigen, dass psychische Faktoren keinen Einfluss auf das Entstehen einer Krebserkrankung haben, demnach gibt es keine Krebspersönlichkeit. Krebs ist keine Erkrankung der Seele.
Diese Behauptung hat auch nachteilige Effekte auf die Betroffenen, indem sie den Leidensdruck steigert – in Form von Selbstvorwürfen wie zum Beispiel „Ich bin schuld“ –, Hoffnung mit Illusion vermischt und damit Enttäuschungen vorprogrammiert. Ein Hauptthema in der Psychotherapie von Krebspatienten sind regelmäßig Selbstvorwürfe, zum Beispiel „Ich habe die Krebserkrankung mit verursacht“, „Ich mache mir immer zuviel Stress“, „Meine falsche Lebensweise hat die Erkrankung verursacht“.
Viel relevanter sind allerdings die Einflüsse sozialer Faktoren wie Armut, Bildungsmangel, Fehlen sozialer Netzwerke, körperlicher Faktoren wie Alter, Geschlecht, Begleiterkrankungen, hoher Body Mass Index (BMI), psychischer Faktoren wie Ängstlichkeit, Depressivität, Distress, posttraumatische Belastungsreaktionen etc. Diese Faktoren können wir im Rahmen der onkologischen Rehabilitation evidenzbasiert gezielt behandeln.
Wie werden Krebspatienten darüber hinaus unterstützt, um wieder in den Alltag zurückzukehren?
Auch hier ist das Engagement der PVA hervorzuheben. Nachdem viele Krebspatienten nicht so lange aus ihrem gewohnten Umfeld wegwollen, geht die Diskussion in Richtung einer wohnortnahen, ambulanten Reha, wo im Rahmen von speziellen Programmen zweimal wöchentlich auf diese drei Säulen eingegangen werden kann.
Ein weiterer Aspekt ist, dass wir versuchen, eigene Turnusse in den Sommermonaten für alleinerziehende Mütter einzurichten, bei denen auch Kinder mitkommen können und von Pädagogen betreut werden. Schließlich bemühen wir uns, durch Zusammenarbeit mit dem AMS den Betroffenen auch die Rückkehr in den Arbeitsalltag zu erleichtern.
Wo steht Österreich im internationalen Vergleich?
Wir haben durch die Pilotprogramme jetzt die Chance, basierend auf nationalen und internationalen Erfahrungen ein neuartiges, modernes, onkologisches Rehabilitationsprogramm aufbauen zu können, das an die Bedürfnisse der Menschen und unseres Gesundheitssystems angepasst ist und neueste wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen kann. Das ist eine tolle Gelegenheit. Wir können so etwas umsetzen, das für den Patienten und das Gesundheitssystem einen hohen Nutzen bringt.
Was würden Sie sich in der Zusammenarbeit mit den in den Reha-Einrichtungen tätigen Kollegen wünschen?
Die Zusammenarbeit mit den Kollegen in den onkologischen Reha-Einrichtungen ist ausgezeichnet. Wichtig ist eine enge Vernetzung und gute Zusammenarbeit mit den Zuweisern und niedergelassenen Kollegen, um unsere Ressourcen optimal zum Wohl der Betroffenen einzusetzen. rh
Foto: fotolia
Info & Kontakt:
www.öarp.at, www.oearp.at
Buchempfehlung
Peter Fässler-Weibel, Alexander Gaiger: Über den Schatten springen. Vom Entwirren einer Erkrankung durch Begegnung;
Paulus Verlag, 2009
Fort- und Weiterbildung
Lehrgang Psychoonkologie der österreichischen Akademie für onkologische Rehabilitation und Psychoonkologie, Start September 2012
Anmeldung: ÖARP (Österreichische Akademie für onkologische
Rehabilitation und Psychoonkologie)
(www.öarp.at)