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Versorgungsengpässe

Systemfehler erschweren nach wie vor den breiten Zugang zur psychotherapeutischen Behandlung auf Krankenschein. Die Kassen weigern sich, ihrem gesetzlichen Auftrag nachzukommen.


Seit Jahren gibt es zu kleine Kontingente für kassenärztliche Psychotherapie.

Jeder Vierte leidet zumindest einmal im Leben an einer psychischen Erkrankung. Psychische Erkrankungen sind also etwas Alltägliches und Normales, jeder kann davon betroffen sein. Dementsprechend selbstverständlich sollte auch ein umfassendes und flächendeckendes, kassenfinanziertes psychotherapeutisches Behandlungsangebot sein. Das österreichische Gesundheitswesen ist von einem ausreichenden Versorgungsangebot jedoch noch weit entfernt.
Vor 20 Jahren wurde kassenfinanzierte Psychotherapie gesetzlich eingeführt. Die Kassen haben sich verpflichtet, Psychotherapie in ihren Leistungskatalog aufzunehmen und als Krankenbehandlung zu bezahlen. Die psychotherapeutische Versorgung sollte analog zur ärztlichen Versorgung über einen Gesamtvertrag sichergestellt werden. Die Kassen allerdings weigern sich bis heute, diesen gesetzlichen Auftrag zu vollziehen.

Stattdessen haben die Kassen im Jahr 2001 Kontingente für Psychotherapie auf Krankenschein eingeführt. Diese Modelle sollten die Zeit bis zur Gesamtversorgung überbrücken und sozial Bedürftigen helfen, dennoch zur Psychotherapie zu kommen. Aus den Provisorien wurden aber Dauereinrichtungen, die für die Patienten große Nachteile mit sich bringen. Es gibt seit über zehn Jahren viel zu kleine Kontingente für kassenfinanzierte Psychotherapie und daneben die Zuschussregelung. Der Zuschuss liegt bei nur 21,80 Euro pro Psychotherapiestunde, die rund 80 Euro kostet. Der Zuschuss wurde außerdem seit 1992 von den Kassen nicht erhöht oder wertangepasst. Es liegt auf der Hand, dass sich viele Versicherte die Behandlung unter diesen Umständen nicht leisten können. Auch der teilweise unregulierte Zugang zur Kassenpsychotherapie erschwert und verunmöglicht die Inanspruchnahme von Psychotherapie. Die Folgen dieser bedenklichen Entwicklung sind Versorgungsengpässe, krasse Ungleichbehandlung der Sozialversicherten, lange Wartezeiten und letztlich Nicht-Behandlung und Chronifizierung.

Beschämende Zahlen

Der Versorgungsgrad mit psychotherapeutischem Behandlungsangebot liegt in Österreich mit 0,8 Prozent der Bevölkerung beschämend niedrig. Im Vergleich befinden sich in Deutschland und der Schweiz bereits rund drei Prozent der Bevölkerung in Psychotherapie. Statistisch gesehen wären bis zu fünf Prozent der Bevölkerung bereit, bei anhaltenden Symptomen einer psychischen Erkrankung eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch zu nehmen. Auch die aktuellen Sozialversicherungsdaten sollten die gesundheitspolitischen Alarmglocken läuten lassen: 900.000 Österreicher beanspruchen das Gesundheitswesen wegen psychischer Erkrankungen, 840.000 nehmen Psychopharmaka, aber nur rund 65.000 befinden sich in Psychotherapie, davon die Hälfte in der Zuschussregelung.

Vorurteile

Psychotherapie wirkt nachweislich hoch effizient und nachhaltig. Dennoch stößt die Behandlungsmethode immer noch auf Skepsis, Unwissen und Vorurteile. Das hat damit zu tun, dass psychisch Kranke selbst immer noch mit Vorurteilen und Benachteiligung zu kämpfen haben. Weit verbreitet wird psychisch Kranken Wehleidigkeit, Selbstverschulden, Schmarotzertum und Ähnliches vorgeworfen.
Anstatt diese Vorurteile zu bekämpfen, benachteiligen auch die Kassen diese Patientengruppe, indem sie Psychotherapie nur sehr eingeschränkt finanzieren. Möglich ist das nur deshalb, weil psychisch Kranke in der Regel keine laute Stimme und vor allem keine starke Lobby haben, die in der Öffentlichkeit gegen diese Ungerechtigkeit und Ungleichbehandlung auftreten würde. Es darf uns Mahnung und Hoffnung zugleich sein, wenn Sigmund Freud bereits im Jahr 1919 feststellte: „Irgendeinmal wird das Gewissen der Gesellschaft erwachen und sie mahnen, dass der Arme ein ebensolches Anrecht auf seelische Hilfeleistung hat wie bereits jetzt auf lebensrettende chirurgische (...).
Diese Behandlungen werden unentgeltliche sein. Es mag lange dauern, bis der Staat diese Pflichten als dringende empfindet. Die gegenwärtigen Verhältnisse mögen den Termin noch länger hinausschieben, (...) aber irgendeinmal wird es dazu kommen müssen.“

Autor: Dr. Eva Mückstein, Psychotherapeutin, Klinische und Gesundheitspsychologin, Supervisorin Löwengasse 3/5/6
1030 Wien
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