Sein & Haben – Der Arzt 2.0
In unregelmäßigen Abständen wird eine neue medizinische Ära verkündet – sei es durch neue bahnbrechende Krebstherapien auf wissenschaftlichem Niveau oder durch die Verheißung einer vollends digitalen Krankenakte auf organisatorischer Ebene.
Die moderne Medizin und ihr wichtigster Anker, die Ärztin und der Arzt, haben in den letzten 400 Jahren eine Reihe von Änderungen und Entwicklungen mit- und durchgemacht. Der wissenschaftliche Fortschritt ist unaufhaltsam und spiegelt sich in der verlängerten Lebenserwartung deutlich wieder. Von außen betrachtet zumindest. Im Prinzip aber unterscheidet sich die ärztliche Tätigkeit nur marginal von jener noch 100 Jahre zuvor. Anamnese, Diagnostik und Therapie sind Kennzeichen der Medizin, die Jahrhunderte überdauern und, unabhängig von Trends und Zyklen, den „Kerngeschäftsbereich“ darstellen. Einzig und allein die Mittel und Werkzeuge haben sich elementar verändert. Von hochauflösenden Computertomografen bis hin zur Telemedizin gibt es eine Vielzahl an technologischen Fortschritten, die den klinischen Alltag heutzutage dominieren und deren Einsatz nicht mehr wegzudenken ist.
„Arzt sein“ hat Jahrhunderte überdauert
Dieser Fortschritt ist zu einem Großteil auf medizinisch-technologische Entwicklungen beschränkt. Gerätschaften, Arzneimittel und digitale Stethoskope sind, aus gutem Grund, elementare Bestandteile, denen viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die ärztliche Tätigkeit an sich hat aber in den letzten Jahrzehnten nur wenige, große Schritte gemacht. Zeitgleich ist eine schleichende, oft unliebsame Tätigkeit hinzugekommen, über die vielfach moniert wird, jedoch selten wird versucht sie zu ändern: die Dokumentation.
Die Dokumentationspflicht des modernen Arztes nimmt bereits jetzt bei Weitem mehr Zeit in Anspruch als die Anamnese. Diese Tatsache – und die damit verbundene Unzufriedenheit im Job und die darunter leidende Patienten-Arzt-Beziehung – ist auch dem Gros der Ärzteschaft durchaus bewusst. Meist ist der Leidensdruck nicht groß genug, um auch proaktiv etwas daran zu ändern. Es existiert eine Vielzahl an Möglichkeiten, den Arbeitsalltag effizienter, schöner und vor allem wieder klinischer zu gestalten. Diese Werkzeuge werden aber weder auf einer Universität vorgestellt noch sind sie Thema einer Fortbildungsveranstaltung. Von Workflows, Tools und Web-Applikationen wollen Ärzte in der Regel wenig wissen bzw. wird diesen Elementen nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt – auch seitens der im Gesundheitsbereich agierenden Protagonisten: Sozialversicherungen, Pharmaunternehmen, Dienstleister.
Digital Natives: Neue Medien in die Wiege gelegt
Mit dem ubiquitären Vorhandensein des Internets, dem wachsenden Absatz von Smartphones und einer jungen Generation von Medizinern, die bereits mit dem Internet aufgewachsen sind, ändert sich die Arbeitsweise von Ärzten oftmals radikal. Die Suchmaschine Google® ersetzt vielfach den Austria Codex, das iPhone dient als mobile medizinische Recherchequelle wissenschaftlicher Literatur und Rezepte werden zusehends in elektronischer Form ausgestellt. Allesamt Vorboten einer grundlegenden, digitalen Umstellung in einer Vielzahl an Lebens- und Arbeitsbereichen.
Der Umstand, dass sogenannte „Digital Natives“, Menschen, die den Umgang mit digitalen Medien von klein auf gewohnt sind, auf eine Generation treffen, die Medizin noch mit Block und Bleistift praktizierte, ist wohl ein Hauptgrund, dass Entwicklungen dahingehend eher schleppend vorangehen und die Akzeptanz für neuartige digitale Medien und Tools gering ist.
Das Internet als Primärquelle
Durch Google® wurde das Internet erstmals durchsuchbar und Dokumente, alias Webseiten, auffindbar. Dieser unaufhaltsame Trend ist nach mehr als zehn Jahren den meisten Menschen in der zivilisierten Welt bekannt und wird gemessen am Erfolg von Google® und anderen Internetportalen auch zunehmend genutzt. Die Benutzung des Internets als Informationsquelle ist generationenübergreifend bereits zu einem Großteil angekommen. Wissenschaftliche Recherche funktioniert beispielsweise weitgehend über PubMed (www.pubmed.com), das Online-Portal des National Institute of Health in den USA, und den kostenlosen Einstieg in wissenschaftliche Publikationen weltweit. Nur den wenigsten ist jedoch das kleine amerikanische Start-up PubGet (www.pubget.com) bekannt, das sich zum Ziel gesetzt hat, wissenschaftliche Literatur schneller und einfacher zu finden. Ein kurzer Blick auf das Portal lohnt sich, denn den Betreibern ist wahrlich eine bessere Version der herkömmlichen PubMed gelungen.
Einen Schritt weiter geht das österreichische Start-up 123sonography (www.123sonography.com), das von zwei Kardiologen an der Medizinischen Universität Wien gegründet und betrieben wird. Dort finden sich hochqualitative E-Learning-Kurse rund um das Thema Herzultraschall – DFP-Punkte inklusive. Dass theoretisches Wissen auch über Online-Kanäle vermittelt werden kann, ist in den unternehmerisch denkenden USA bereits bekannt und hat auch schon eine Vielzahl an Online-Firmen geboren, die von Sprachen (www.busuu.com) bis hin zu „Anleitungen für alternative medizinische Karrieren“ (www.freelancemd.com) eine breite Palette an Produkten zum Online-Lernen anbieten.
Ein junges, jedoch sehr erfolgreiches Unternehmen aus Kalifornien hat es sich zur Aufgabe gemacht ein möglichst simples Programm zu schaffen, um Gedanken, To-dos, Ideen, Aufgaben etc. zu speichern und zu verwalten. Die Firma trägt den programmatischen Namen Evernote (www.evernote.com) und stellt laut Eigendefinition ein „virtuelles Gedächtnis“ dar. Auf den ersten Blick ist die medizinische Komponente unklar, aber genauso wie in anderen Berufsgruppen sind auch Ärzte oftmals mit Informationen überfordert. Evernote schafft Abhilfe, indem Informationen und Gedanken entweder über das Mobiltelefon, die Webseite oder per SMS „deponiert“ werden. PD Dr. Franz Wiesbauer, Gründer und Geschäftsführer von 123sonography, meint hierzu: „Mit Evernote kann ich Notizen, Informationen und Gedanken praktisch und schnell festhalten. Die Möglichkeit der Kategorisierung und die ausgeklügelte Suchfunktionalität ermöglichen es mir, diese Inhalte dann wieder schnell zu finden. Einträge können sowohl Bilder, Sprachmemos oder Dokumente beinhalten. Evernote ist ein tolles Produktivitäts-Tool!“
Aus dem klinischen Alltag in den USA nicht mehr wegzudenken ist ePocrates (www.epocrates.com), das sich als mobiler Begleiter der amerikanischen Ärzteschaft einen Namen gemacht hat und sämtliche Fragen rund um Arzneimittel kompetent und digital beantwortet, zum Beispiel hochauflösende Fotos von Pillen abbildet, sodass diese auch ohne Verpackung identifiziert werden können. Vergleichbare Produkte sucht man hierzulande leider vergebens! Ein vom Autor dieser Zeilen mitbegründetes Online-Magazin namens MedCrunch (www.medcrunch.net) befasst sich ausschließlich mit Themen dieser Art und wird bereits von mehreren Tausend Ärzten in den USA gelesen. Ziel des Magazins ist es, einen neuen Blickwinkel auf die Medizin und insbesondere die ärztliche Tätigkeit zu richten.
Der digitale Patient
Nicht nur für die Ärzteschaft ergeben sich aus der Digitalisierung Vor- und Nachteile, denn der Trend macht natürlich auch vor Patienten nicht halt. Das Internet schafft Transparenz, macht Informationen leicht zugänglich und ist grundsätzlich kostenlos. All diese Faktoren tragen dazu bei, dass sich Patienten immer mehr über ihre Krankheiten informieren und sich mit diesen beschäftigen. Auch wenn dies eine Entwicklung ist, die von Ärzten in der Regel als negativ beäugt wird, stellt sie eine neue Möglichkeit dar, um Patienten zu betreuen. Patienten, die sich mit ihrer Krankheit beschäftigen und in Online-Communities wie zum Beispiel Patients Like Me (www.patientslikeme.com) austauschen, sind eine wertvolle Quelle, um auch statistische Aussagen über Patienten, deren Zufriedenheit mit einem bestimmten Medikament oder deren subjektive Erfahrungen zu erheben. Setzt man einen gewissen Bildungsgrad beim Patienten voraus, dann kann dieser heutzutage problemlos die aktuellste Studienlage analysieren, Therapieoptionen recherchieren und entsprechende Fachleute ausfindig machen.
Ziel eines modernen Arztes muss es sein, sich mit diesem Trend zu beschäftigen, anstatt ihn zu vermeiden. Ebenso wird bei nicht lebensgefährlichen Erkrankungen moderne Medizin zunehmend als Dienstleistung erachtet – ein Umstand, der in den USA bereits pathologische Dimensionen angenommen hat, sich aber in Österreich, respektive Europa, noch eher vorsichtig entwickelt. In jedem Fall wird mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Mitsprachebedürfnis seitens des Patienten zunehmen, der „Gott in Weiß“ wird zum fachlich kompetenten Berater und Betreuer des Patienten und die „ärztliche Kunst“ wandelt sich in eine „ärztliche Dienstleistung“. In einigen Bereichen wird dem oben erwähnten Umstand bereits heute Rechnung getragen: zum Beispiel bei der Wahl eines oralen Kontrazeptivums.
Innovationen aus Österreich und Europa
Der Blick in die vermeintliche Innovationshochburg USA ist zwar in einigen Fällen durchaus nachvollziehbar und korrekt, jedoch ein wenig überstrapaziert, da auch kreative und sinnvolle Produkte in heimischen Gefilden existieren. Neben der E-Learning-Plattform 123sonography.com entwickelt ein Gründerteam rund um einen Diabetes Mellitus Typ 1-Patienten eine mobile Softwareapplikation (MySurg, www.mysugr.com), die das Blutzuckertagebuch von Diabetikern ersetzen soll. Abgesehen von der digitalen und mobilen Datenerfassung birgt der Service auch einige Features, die für eine engmaschige Kontrolle von Diabetikern aus Sicht des Arztes von Vorteil sein können.
Die automatische Übermittlung von Blutzuckerwerten an den PC des Arztes und eine automatisierte Möglichkeit, Patienten bei Grenzwerten an die Kontrolluntersuchung zu erinnern, sind nur die ersten Schritte. Dasselbe System ist natürlich mannigfaltig einsetzbar. Bei einem erstmaligen Besuch können vorab Kontrolltermine vereinbart werden, an die dann der Patient automatisch über Facebook, SMS oder E-Mail erinnert wird – eine zeitschonende Entwicklung, die sowohl dem Arzt als auch dem Patienten zugutekommt.
Der Salzburger Jungunternehmer Johannes Allesch hat gemeinsam mit dem Gefäßchirurgen Univ.-Prof. Dr. Thomas Hölzenbein ein Unternehmen mit dem Ziel gegründet, den herkömmlichen Aufklärungsbogen auf Papier durch einen digitalen zu ersetzen. Die Idee, komplexe Operationen über animierte Videos dem Patienten näherzubringen, ist selbsterklärend. Statt mit Bleistift einen OP-Aufklärungsbogen durchzugehen, können die Aufklärungsvideos von AniMedical direkt am iPad dem Patienten übergeben werden und audio-visuell erklärt werden. Die digitale Signatur ermöglicht in weiterer Folge auch die Einverständniserklärung des Patienten digital zu erfassen und zu archivieren. Die Vorteile einer solchen Lösung liegen auf der Hand: Dokumentation bei gleichzeitig reduzierter Arbeitsbelastung für den Arzt und besserer Information beim Patienten.
Beachtlichen Erfolg hat das Pariser Unternehmen Withings (www.withings.at) zu verzeichnen. Vor einigen Jahren wagte sich das frisch gegründete Unternehmen mit einer Waage mit integriertem Wireless-Lan-Chip auf den Markt. Mit dem Kauf der Waage erwirbt man nicht nur das Gerät an sich, sondern eine Software-Komponente, die automatisch jedes Abwiegen über ein Funknetzwerk übermittelt und so einen exakten Gewichts- und Körperfettverlauf archiviert. Neben der Selbstkontrolle von adipösen Patienten gibt es auch einen Zugang für den jeweiligen Arzt, der so die Möglichkeit hat, zu jeder Tages- und Nachtzeit die Gewichtsentwicklung zu beobachten und gegebenenfalls auch mit dem Patienten über das Programm zu interagieren.
Ein ähnliches Gerät, jedoch für einen anderen Anwendungsbereich, wurde erst kürzlich vorgestellt: Eine Blutdruckmanschette, die nicht nur äußerst ästhetisch ist, sondern eine drahtlose Übermittlung von Blutdruckwerten ermöglicht.
Fazit: Nicht wegsehen, sondern angreifen
Die digitalen Möglichkeiten sind schier endlos. Viele Produkte und Services sind bereits ausgereift, scheitern aber am strikten klinischen Alltag. Medizin ist ein traditionelles Umfeld, in dem sich derartige Neuerungen nur schwer durchsetzen. Es ist zu hoffen, dass eine junge Generation von Medizinern die Vorteile solcher Angebote zu nutzen weiß und auch künftig versucht einzusetzen – trotz strenger Hierarchien, Überarbeitung und fehlender Mitstreiter. Der Computer und das Smartphone sind schon jetzt ständige (und notwendige) Weggefährten des Arztes, weshalb es naheliegend ist, sich auch mit den Angeboten abseits der verpflichtenden Softwareprogramme zu beschäftigen.
Autor: Dr. Lukas Zinnagl
Kontakt: lukasdiagnosia.com
Foto: istockphoto
Online-Tipps für Mediziner
- Recherchetools: www.pubmed.com, www.pubget.com
- E-Learning: www.123sonography.com, www.busuu.com ,www.freelancemd.com
- „Virtuelles Gedächtnis“: www.evernote.com
- Arzneimittelwissen kompakt: www.epocrates.com
- New Media News für Mediziner: www.medcrunch.net
- Patientenplattform: www.patientslikeme.com