Schnelles Glück
Verhaltenssüchte bedienen schnell und unkompliziert die menschliche Suche nach Beziehungen. Warum fast jeder betroffen ist und „Junkies“ heute weit verbreiteter zu finden sind als nur in Form des landläufigen „Süchtlers am Bahnhofsklo“.
Kontakt: Prim. Dr. Kurosch Yazdi
Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin
Leiter der Abteilung Psychiatrie 5, Landesnervenklinik Wagner-Jauregg
Wagner-Jauregg Weg 15, 4020 Linz
Tel.: 050/55462-29550, 
kurosch.yazdi
gespag.at, www.gespag.at
Sucht ist längst kein Phänomen mehr, das Randgruppen betrifft. Sie ist mitten in der Gesellschaft angekommen und liegt im Trend. Genau das macht sie aber gefährlicher denn je: Ob die Sucht nach Arbeit, nach Einkaufen, nach Social Media – sie hat alle Lebensbereiche und alle sozialen Schichten erfasst. Selbst übermäßiger Alkoholkonsum ist in Österreich längst salonfähig und auch das Nichtrauchen hat es schwer, sich angesichts der Zahl und Macht der Raucher allein in der Gastronomie durchzusetzen. Nach wie vor konzentriert sich die Betrachtung Sucht als Erkrankung auf jene, die von stoffgebundenen Süchten betroffen sind. Doch die Tragweite ist längst eine andere, denn viele von uns sind abhängig von Gütern, die dank Internet rund um die Uhr und völlig legal verfügbar sind. 
„Anstelle von Heroin, Kokain oder LSD heißen die Drogen heute Kaufen, Internet und Spielen“, bringt es Prim. Dr. Kurosch Yazdi, Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin und Leiter der psychiatrischen Abteilung 5 (Zentrum für Suchtmedizin) der Landesnervenklinik Wagner-Jauregg, auf den Punkt. „Das Ergebnis äußert sich dann nicht in einem unsicheren Gang, zahnlosem Gebiss oder verschorften Venen, sondern in Schulden, Haltlosigkeit und Vereinsamung“, führt der Experte vor Augen. Er hat in seinem Buch „Junkies wie wir“ (siehe Kasten) das Mainstreamphänomen „Sucht“ näher unter die Lupe genommen und fordert vehement: „Die Lösung liegt nicht in punktuellen Maßnahmen. Wir müssen uns bewusst werden, dass wir mittlerweile einer Suchtgesellschaft angehören, die eine soziale Katastrophe einleiten könnte“, warnt der Experte.
Auf der Suche nach Stabilität
Sucht geht immer einher mit einem Kontrollverlust und Kontrolle steht umgekehrt für einen sicheren Halt. Immer mehr Menschen sind heute auf der Suche nach dieser Sicherheit, die in der Regel in stabilen Beziehungen – sei es in der Familie, am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis – zu finden ist. Doch heute heißt das Cappuccino-Worker und Facebook-Freunde – sie bilden diese Bezugspunkte, die jedoch so instabil sind wie nie zuvor. „Die totale Individualität macht uns nicht glücklich, der Mensch ist immer noch ein Rudeltier“, ist Yazdi überzeugt und beschreibt vereinfacht auch die Basis aufgrund biochemischer Zusammenhänge: „Das Gehirn verfügt über ein biologisches Belohnungssystem, das das Glückshormon Dopamin ausschüttet. Das ist in Zeiten von knappen Angeboten durchaus sinnvoll, weil es zur Motivation und Leistung beiträgt. Haben wir jedoch alles im Überfluss, so muss die Dosis ständig erhöht werden, um mit den üblichen Belohnungen auch glücklich zu werden.“ Fazit: Nikotin, Kokain, Alkohol, Computerspiele, Shoppen oder Essen – all das sorgt für den erforderlichen Dopaminkick, muss jedoch in immer höherer Dosis zugeführt werden. Der Nachteil: Menschen mit Verhaltenssüchten tun im Gegensatz zu den Substanzsüchtigen weder etwas Verbotenes noch Kriminelles und können daher schwer von „Kontrollinstanzen“ erfasst werden. Shoppen, Spielen oder Essen passiert einfach per Mausklick im eigenen Wohnzimmer – unbemerkt und anonym.
Werbung wirkt
Verschärft wird die Problematik auch dadurch, dass die Verhaltenssucht und ihre Auslöser mitten in der Gesellschaft als „Lifestyle-Konzept“ angekommen sind. „Keine Werbung würde Raucherlungen oder eine Alkoholleber einsetzen. Shoppinggenuss oder viele Facebook-Freunde sind hingegen als positive Attribute aus kaum einer Werbebotschaft wegzudenken“, beschreibt Yazdi die Ignoranz gegenüber der Problematik.
Sündenbock Internet?
Mit der Zahl der internetfähigen Geräte steigt auch die Zahl der Internetsüchtigen, die den Experten in seiner Suchtambulanz aufsuchen. Die Medien an sich dafür zur Verantwortung zu ziehen, wäre zu einfach. Viel eher gilt es, das neue Lernen auf diese Entwicklung abzustimmen und den Rahmen für eine zu dieser Entwicklung passende Medienkompetenz abzustecken. „Wir kämpfen mit tiefgreifenden Perspektivenproblemen, denn bei den meisten Kindern und Jugendlichen kann ich keine Vorteile aufzählen, die aus deren Perspektive ein Leben ohne Internetsucht attraktiv machen können“, sagt der Mediziner. Erwachsene können in „ihr“ Leben zurückkehren oder haben bessere gesundheitliche Parameter, das sind handfeste Vorteile. Junge Menschen, die etwa von ihrer „World of Warcraft“-Spielsucht befreit sind, stehen erst am Anfang eines langen Weges: eine Ausbildung zu beginnen, ein soziales Netz „ohne Internet“ zu finden und ein Leben in einer realen Community aufzubauen. „Daher sind die Rückfallquoten bei jungen Menschen mit Verhaltenssüchten viel höher als vergleichsweise bei Erwachsenen“, beschreibt Yazdi und ergänzt: „Viele Internetsüchtige haben Entwicklungsverzögerungen und sind aufgrund der sozialen Isolation oft im Teenageralter steckengeblieben. Eltern sind nicht selten Co-Abhängige.“ rh
Buchtipp
Kurosch Yazdi: Junkies wie wir. Spielen. Shoppen. Internet. Was uns und unsere Kinder süchtig macht
In uns allen steckt ein Junkie, auch wenn wir das nicht immer wahrhaben wollen. Je nach persönlicher Prägung ist er stärker oder schwächer. Im Buch wird beschrieben, was den Junkie in uns weckt, wie er funktioniert und wie Konzerne unsere Verhaltenssüchte und die unserer Kinder nutzen und sie zur ganz normalen Kulturpraxis erklären. Ein Buch über die verführbaren Seiten in jedem von uns, über eine Generation junger Menschen, die als manipulierbare Konsumenten den Tritt verlieren und über das Muster, das hinter jeder Sucht steckt: der Wunsch nach Beziehung.
edition a., Wien 2003, 
ISBN 978-3-99001-052-5
Warum wir alle Junkies sind: Nachgefragt bei ...
... Prim. Dr. Kurosch Yazdi, Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin und Leiter der psychiatrischen Abteilung 5 (Zentrum für Suchtmedizin) der Landesnervenklinik Wagner-Jauregg
Verhaltenssüchte sind auf dem Vormarsch – warum?
Bei jeder Sucht ist der Hauptfaktor die Verfügbarkeit. Viele Süchte wie etwa Glücksspiel oder Kaufsucht sind nicht neu, aber die ständige Verfügbarkeit durch das Internet hat hier die Dimensionen erweitert. Vieles davon ist ganz einfach zugänglich, ohne Altersbeschränkung, ohne Kontrolle. Früher musste sich ein Spielsüchtiger hübsch anziehen und ins Casino gehen, dort war er möglicherweise schon bekannt. Kaufsüchtige waren durch Ladenöffnungszeiten eingeschränkt, heute reicht ein Mausklick und alles kann 
24 Stunden sieben Tage die Woche bestellt werden. Selbst Kinder können mit ein wenig Geschick trotz vorhandener Altersbeschränkungen spielen, von einkaufen ohne Limit gar nicht die Rede oder der Eröffnungen von Konten in sozialen Medien. Nicht jeder Facebook-Freund ist wirklich mindestens zwölf Jahre alt …
Wie viele Menschen sind betroffen?
Das ist schwer zu sagen, wir haben in Österreich praktisch keine validen Daten.
Sie machen unter anderem für einen Großteil des Problems die Werbewirtschaft verantwortlich. Gab es die nicht auch schon immer?
Ja, aber sie kann beschränkt werden, wie man an der Zigarettenwerbung deutlich sehen kann. Auch für Alkohol gibt es mittlerweile Einschränkungen. Ich prangere nicht die Werbung an sich an, aber die Werbewirtschaft hat in den letzten Jahren die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen entdeckt und geht immer aggressiver vor, diese zu umgarnen. Werbung in Schulen war beispielsweise lange verboten, heute ist das kein Thema mehr. Ich sehe hier aber ganz besondere Schutzinteressen, sodass etwa nicht jede Werbung auf dem Smartphone ankommen darf, die bewusst Bedürfnisse und Interessen der jungen Generation weckt. Dem kommt der Einzelne ja kaum mehr aus. Das stellt eine große Verführung dar und wir wissen, dass die Kinder dafür sehr empfänglich sind. Noch dazu sind sie mittlerweile auch kaufkräftige kleine Konsumenten, haben mehr Taschengeld und sind damit echte Entscheider am Markt. 
Aber ist am Ende nicht jeder Einzelne für sich verantwortlich und bei Kindern noch die Eltern?
Ja, natürlich. Dennoch muss man die Kinder und Jugendlichen auch vonseiten der Medizin entsprechend unterstützen. Wir haben in Oberösterreich zum Beispiel eine einzige Ambulanz für Verhaltenssüchtige, die ist aber nur für Erwachsene. Für Kinder- und Jugendpsychiatrie fehlt das Geld. Meine Ambulanz für diese Zielgruppe lebt derzeit zu 100 % von Spenden und ist die einzige in Oberösterreich! Kinder haben außerdem selbst keinen Leidensdruck und sind nicht motiviert, von sich aus eine Therapie in Anspruch zu nehmen. Da müssen die Erwachsenen in die Pflicht genommen werden und präventiv ist das eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe!
Was können Eltern aktiv tun?
In erster Linie sich für das interessieren, was ihre Kinder tun. War ein Jugendlicher früher bis fünf Uhr morgens unterwegs, haben sich die Eltern Sorgen gemacht. Heute sitzt er bis fünf Uhr morgens vor dem Computer und die Eltern sind froh, dass er „sicher“ im Kinderzimmer ist. Interesse, Aufmerksamkeit und nicht wegschauen sind dringend erforderlich!
Bevor jemand krankhaft süchtig wird, tritt ein Kontrollverlust ein. Wie grenzen Sie das ab?
Kontrollverlust ist ein Symptom jeder Suchterkrankung. Das heißt konkret, wenn ich mit einem bestimmen Verhalten anfange, dann kann ich nicht mehr damit aufhören, so zum Beispiel Erdnüsse essen, bis die Packung leer ist. Wenn sich der Kontrollverlust bemerkbar macht, braucht es Steuerung von außen: also das Sackerl wegnehmen oder nicht einkaufen. Übersetzt auf Onlinespiele kann das heißen, die Computerzeit für die Kinder zu beschränken. Das Schlagwort in der Suchtbekämpfung heißt Verfügbarkeit, die gilt es einzuschränken. Das Internet etwa treibt die Kauf- und Spielsucht voran. Ich kann rund um die Uhr wetten, Schuhe bestellen oder Pornos anschauen. Dort, wo man stark gefährdet ist, sollte man also relativ radikal den Zugang kappen. Dort, wo man wenig bis gar nicht gefährdet ist, kann man kontrolliert konsumieren.
Welche wirkungsvollen Strategien gibt es hier in der Prävention?
Viele – nur nichts davon ist schnell und einfach. Grenzen einführen, positive Angebote setzen, Interesse zeigen, ... all das sind Ansätze für Eltern, aber auch für die Schule. Wir haben die Verantwortung zu übernehmen, dass Kinder und Jugendliche nicht verhaltenssüchtig werden, das ist viel wichtiger als die Frage, ob sie ein paar Lateinvokabel mehr oder weniger können. Es reicht nicht, einmal im Jahr ein paar Stunden über Drogen zu diskutieren, Gesundheitsförderung als solche und unter anderem im Sinne von Suchtprävention muss am Lehrplan weit oben stehen, auch im Hinblick auf eine spätere berufliche Leistungsfähigkeit. Und schließlich ist die Politik gefordert, Grenzen und Regeln einzuführen, zum Beispiel über Zugänge von Online-Glücksspielen aus dem Ausland, wo nicht einmal eine Altersbeschränkung herrscht. Leider haben wir viele Politiker, deren Kinder aus dem Alter bereits heraus sind, daher können sie viele Sorgen und Herausforderungen von Eltern von heute oft gar nicht nachvollziehen.
Welche Rolle spielt der niedergelassene Arzt in der „Früherkennung“ – welche Tipps haben Sie für ihn, wie er das Thema ansprechen kann?
Die Gesundheitsförderung in der Schule muss ausgebaut und die Rolle des Schularztes gestärkt werden. Hausärzte müssen lernen, dass es mehr gibt als nur die Alkohol- und Niktoinsucht und auch, wie damit in Diagnose und Therapie umzugehen ist.
Führen Verhaltenssüchte auch zu  Entzugserscheinungen und können diese medikamentös behandelt werden?
Ja, sie führen zu Entzugserscheinungen, das ist Teil jeder Sucht-erkrankung. Aber hier sollte man nicht länger zwischen körperlichen und psychischen Symptomen unterscheiden, denn wenn ein Alkoholiker schwitzt, kann das eine Entzugserscheinung sein, aber auch wenn ein Glücksspieler im Entzug gereizt und aggressiv wird. Bei Kindern und Jugendlichen beobachten wir Schlafstörungen, Gereiztheit, Konzentrationsstörungen. Die medikamentöse Behandlung ist nicht sinnvoll und meist nicht zielführend, auch bei substanzgebundenen Süchten gebe ich im Fall von Entzugserscheinungen nur dann Medikamente, wenn die Symptome bedrohlich oder unerträglich sind.
Sie meinen, dass jeder von uns süchtig werden kann – gibt es dennoch bestimmte Prädispositionen?
Ja, krank werden ist leider nicht gerecht verteilt. Genetik, Erziehung, Freundeskreis, Kultur, Gesellschaft … es gibt viele Faktoren, die uns für eine Sucht vulnerabel machen. Da jeder Mensch ein biochemisches Belohnungssystem hat, kann prinzipiell auch jeder süchtig werden.



