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Psychiatrie, anders

Constantin Wulffs Kinodoku „Wie die anderen“ wirkt den Psychiatrieängsten, die in uns allen tief sitzen, behutsam entgegen. Das Porträt aus dem niederösterreichischen Landesklinikum Tulln, das Primar Paulus Hochgatterer und sein Team 95 Minuten lang begleitet, lässt die Protagonisten sprechen. Und schweigt.


Prim. Dr. Paulus Hochgatterer, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Landeskrankenhaus Tulln

„Ich heiße Leonie. Alle fragen mich, warum ich so seltsam bin. Keiner weiß eine vernünftige Erklärung. Dabei wäre ich gerne genauso wie die anderen. Ich hoffe, ich werde mich bald ändern.“ Die einführenden, nachdenklichen Worte des Teenagers bringen Constantin Wulffs neuen Kinodokumentarfilm auf den Punkt: Wie die anderen ist kein voyeuristischer Blick hinter die Kulissen der Psychiatrie, sondern eine 95-minütige Beobachtung, die weder wertend noch kommentierend den Alltag der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Niederösterreichischen Landesklinikum Tulln porträtiert.

„Ich wollte den Klischees ein realistisches Bild gegenüberstellen“, sagt der in Wien lebende Regisseur, der sich mit diesem Film nach seiner Geburtsklinik-Doku In die Welt (2008) wiederum dem klinisch-medizinischen Genre widmet. „Ich habe den Eindruck, dass psychische Krankheiten in hohem Maße stigmatisiert sind. Unter anderem deswegen, weil angemessene Bilder dafür fehlen.“ Mehr als eineinhalb Jahre begleitete Wulff das Team und seine Patienten mit der Kamera.

Dialogkultur auf Augenhöhe

Oppositionelles Verhalten. Motorische Entwicklungsverzögerung. Hochgradiger Verdacht auf sexuellen Missbrauch. Für einen Außenstehenden klingen diese Begriffe, die mal ins Diktiergerät gesprochen, mal in der Besprechung auf den Tisch gelegt werden, kalt und emotionslos. Ärztelatein, mit einem Wort. Doch Wulff schafft es, selbst in diesen Momenten der diagnostischen Entblößung niemals ein Gefälle zwischen Arzt, Patient und Erziehungsberechtigten entstehen zu lassen. Die Dialogkultur in dieser Abteilung – der Beweis wird auf die Leinwand projiziert – ist eine auf Augenhöhe.

Nur einmal eskaliert die Situation. In der 73. Minute entfacht der Fachärztemangel in Österreich einen Streit, bei dem der im Film sonst so zurückhaltende und wenig gesprächige Primar Paulus Hochgatterer von seinen Team-Mitgliedern für die gesundheitspolitischen Versäumnisse in Österreich, vor allem für den Personalmangel in seiner Abteilung zur Rede gestellt wird. Hier wird nichts beschönigt, hier wird nichts für die Kamera in Szene gesetzt. „Mir ist das mittlerweile schon wurscht, wen wir kriegen“, sagt eine Mitarbeiterin in Rage. „Es ist mittlerweile nicht mehr fünf vor zwölf, sondern zehn nach.“ Hochgatterer: „Es gibt keine Fachärzte.“ Und Schweigen.

Schnitt: In einem Gymnastikzimmer mit heruntergelassenen Jalousien befetzen sich zwei Jungs mit halbmannsgroßen, luftgefüllten Gummibällen in Gelb und Rot. Das knallt, und nicht nur akustisch. Das vermeintlich sportliche Spiel, bei dem die mitunter tief sitzenden Aggressionen der pubertierenden Protagonisten spielerisch ausgelebt werden können, macht die dicke Luft der vorangegangenen Filmszene noch deutlicher spürbar, gibt ihr vielleicht sogar ein metaphorisches Ventil, ehe die Kamera auf die Kinderzeichnungen des siebenjährigen Dominik, auf einen Entwurf für ein Halstuch und eine Krawatte schwenkt.

Direct-Cinema-Modus nennt sich diese Art der Dokumentation, die gänzlich auf Interviews verzichtet und sich einzig und allein aus den sozialen Situationen sowie den zeichnerischen und psychodramatischen Elementen nährt. Sie vermitteln Stimmungsbilder und interpretieren erzählerisch, wofür andernfalls vermutlich viele minutenlange Antworten nötig gewesen wären. „Dass der völlige Verzicht auf Kommentar oder auf Vorstrukturierung“, meint Hochgatterer im Interview mit der Stadtkino Zeitung, „so einem Film noch einmal eine ganz besondere Wirklichkeit gibt, habe ich nicht geahnt.“

Wie die anderen ist im besten Sinne ein Aufklärungsfilm. „Der tägliche berufliche Kontakt mit Kindern hat einfach etwas unglaublich Berührendes und Belebendes, auch wenn es sich um Kinder handelt, denen es schlecht geht“, sagt Paulus Hochgatterer. „Es geht auch darum, den Mythos Psychiatrie infrage und damit zur Disposition zu stellen. Das ist wahrscheinlich für manche Leute das viel Schwierigere – die Türen zu öffnen und die Realität der Kinder- und Jugendpsychiatrie tatsächlich zu zeigen.“   woj