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Patient, das (un)bekannte Wesen

Um Patienten optimal behandeln zu können, ist es wichtig, sie möglichst gut zu kennen.


Die Patienten-Compliance liegt in Österreich mit 51 Prozent im internationalen Schnitt, bei den „Traditionellen“ ist sie über- bei „Hedonisten“ deutlich unterdurchschnittlich ausgeprägt. Quelle: Integral

Wie erreiche und therapiere ich meine Patienten am effizientesten? Mit dieser Fragestellung setzte sich das 2012 gegründete Janssen Forum im Rahmen seines jüngsten Forschungsprojekts „Der Patient im Mittelpunkt“ intensiv auseinander. Eine mögliche Antwort meint das Forum in den seit nunmehr 30 Jahren intensiv beforschten Sinus-Milieus® gefunden zu haben. Sie ermöglichen es, die Patienten aufgrund ihres Gesundheitsverhaltens in spezifische Gruppen zu unterteilen, mit jeweils sehr unterschiedlichen Voraussetzungen, Erwartungen und Bedürfnissen. Nur wer diese im Detail kennt und auch entsprechend berücksichtigt, kann letztendlich eine wirksame Arzt-Patienten-Beziehung aufbauen, das Arzt-Patienten-Gespräch so gestalten, dass er auch Gehör findet und damit eine aktive Mitarbeit der Patienten erreichen. Denn Compliance, die auf Eigenverantwortung aufbauende Mitwirkung der Patienten am Therapieerfolg, wird maßgeblich von einer funktionierenden Arzt-Patienten-Beziehung mit all ihren Emotionen und subjektiven Empfindungen beeinflusst.
„Moderne Gesundheitssysteme erkennen immer stärker die Notwendigkeit, den Patienten in den Mittelpunkt aller Bemühungen zu stellen. Das bedeutet aber auch, dass der Patient als wesentlicher Player fähig sein muss, eigenverantwortliche Entscheidungen, die seine Gesundheit betreffen, mitzubestimmen“, ist etwa Dr. Andrea Kdolsky, Managing Director Healthcare Services & Pharmaceuticals bei PwC Österreich, überzeugt.
Was aber konkret erwartet der mündige Patient von seinem Arzt? Wie kann er von diesem am besten angesprochen werden? Eine allgemeingültige Antwort auf diese Fragen gibt es nicht. Zu unterschiedlich sind die Patienten, zu unterschiedlich sind die Menschen. Auch jede „Typologisierung“ kann in diesem Sinn maximal als Annäherung verstanden und darf keinesfalls als „Schubladisierung“ missverstanden werden. Trotzdem kann sie vielleicht doch auch für Ärzte hilfreich sein, um ihre Patienten besser kennen zu lernen, sie besser „einschätzen“ zu können.

Werte beeinflussen Gesundheitsverhalten

Bisher werden Patienten in Gesundheitsstatistiken und medizinischen Forschungsarbeiten meist ausschließlich nach den klassischen soziodemografischen Kategorien wie Alter, Geschlecht, Einkommen und Bildung unterteilt. Schon in dieser groben Kategorisierung zeigen sich immer wieder signifikante Unterschiede im Gesundheitsverhalten bzw. in wesentlichen Gesundheitsparametern. Etwa zeigen Menschen mit höherer Bildung statistisch ein geringeres Sterberisiko. Neben Alter, Wohlstand, Sozialstatus und Bildung beeinflussen aber auch das persönliche Weltbild, Lebensstil, Einstellungen und Wertvorstellungen den Umgang mit Gesundheit maßgeblich.
Sinus-Milieus® gruppieren Menschen weit über bloße soziodemografische Merkmale hinaus nach ihren Werten, ihren Lebensweisen, ihrer Alltagswirklichkeit. Für Österreich wurden in der Vergangenheit bereits zehn Sinus-Milieus® definiert, die sich in vier Gruppen zusammenfassen lassen:

  • Traditionelle Milieus: Konservative (6 Prozent der Gesamtbevölkerung) und Traditionelle (15 Prozent)
  • Moderne Unterschicht: Konsumorientierte (9 Prozent) und Hedonisten (11 Prozent)
  • Neue Mitte: Bürgerliche Mitte (15 Prozent), Adaptiv-Pragmatische (10 Prozent)
  • Gehobene Milieus: Performer (9 Prozent), Postmaterielle (9 Prozent), Etablierte (9 Prozent) und Digitale Individualisten (7 Prozent)

Unter Berücksichtigung dieser zehn Sinus-Milieus® befragte die Integral Markt- und Meinungsforschung im Auftrag des Janssen-Forums 1.000 Österreicherinnen und Österreicher zu Gesundheitsthemen. Das Ergebnis zeigt typenspezifisch stark abweichende Zugänge und Einstellungen zur Gesundheit bzw. unterschiedliches Gesundheitsverhalten. „Ob Einstellung zur Gesundheit, Eigenverantwortung, Arzt-Patienten-Beziehung oder Vorsorge – kaum ein Bereich, in dem Vertreter unterschiedlicher Milieus nicht unterschiedlich ticken“, schreiben die Autoren im Vorwort ihrer Studie.
Einer der angesprochenen Bereiche ist etwa die Vorsorge. „Ein Viertel der traditionell agierenden Personen nimmt Vorsorgeuntersuchungen grundsätzlich nicht in Anspruch“, fasst Janssen-Österreich-Geschäftsführer und Initiator des Janssen-Forums, Dr. Erich Eibensteiner, die Studienergebnisse zusammen. Gleiches gelte für die Angehörigen der konsumorientierten Basis, deren Einstellung häufig durch Resignation geprägt sei. „Hingegen lassen sich 40 Prozent der zu den gehobenen Milieus gehörenden Performer jährlich durchuntersuchen, Gesundheit ist für sie eine Ressource, die vor allem den Erhalt ihrer Leistungsfähigkeit garantiert.“
Ein anderes Bild zeigt sich in puncto Therapietreue. Sie ist mit 65 Prozent gerade bei den Traditionellen überdurchschnittlich stark ausgeprägt, bei Hedonisten im Vergleich dazu nur zu 32 Prozent. Über alle Milieus hinweg liegt die Compliance, die insbesondere für den Krankheitsverlauf chronischer Erkrankungen entscheidend ist, bei bescheidenen 51 Prozent und damit im internationalen Schnitt.

Arzt-Patienten-Beziehung

Das Milieu hat auch große Auswirkungen auf die Erwartungshaltung der Patienten an ihre Ärzte: Während die traditionellen Milieus eher autoritätsgläubig und wenig pro-aktiv sind, treten etwa Performer Ärzten gegenüber selbstbewusst auf, sind dabei aber weniger kritisch als die Privat­arzt-affinen Postmateriellen, welchen die Soft Skills der Ärzte besonders wichtig sind.
Die größte Herausforderung jedoch stellen die digitalen Individualisten dar. Für sie ist der Arzt keine Respektsperson, sie hegen hohe Erwartungen, stellen Diagnosen schnell in Frage und sind auch schnell einmal bereit, den Arzt zu wechseln, wenn ihre hohen Erwartungen nicht erfüllt werden. Ihre Anforderungen sind stark geprägt vom Internet, etwa was abrufbares Wissen oder auch die Erreichbarkeit der medizinischen Versorgung betrifft, was wohl auch ihre Affinität für Spitalsambulanzen erklärt.

Positive Argumente statt Verbote

Ein Milieu, das in gesundheitsrelevanten Bereichen besonders schwer erreichbar scheint, ist die konsumorientierte Basis. Hier ist eine ungesunde Lebensweise besonders häufig anzutreffen, vielfach gepaart mit einem geringen Körper- und Gesundheitsbewusstsein. Ihre Protagonisten fühlen sich in der Arzt-Patienten-Beziehung häufig überfordert.
Am ehesten lässt sich die konsumorientierte Basis noch durch eine positive Argumentation erreichen, ist Eibensteiner überzeugt: „Nicht mit Gesundheitsgefährdung drohen, sondern die sozialen Benefits einer vorsichtigen Lebensstiländerung propagieren.“ Die bürgerliche Mitte sei das wichtigste Leitmilieu für die konsumorientierte Basis, darauf müssten zielgruppenorientierte Kampagnen Bezug nehmen, gesündere Ernährung, Bewegung, mäßigerer Alkoholkonsum – aber alles mit Maß und Ziel, als „Standard der Mitte“.

Differenzierte Apelle

Insgesamt hätten die Studien jedenfalls klar gezeigt, schlussfolgert Eibensteiner, dass „die Hinwendung zum einzelnen Patienten immer wichtiger wird und daher das sprichwörtliche ‚Scheren über einen Kamm‘ im Gesundheitsbereich keine Zukunft hat.“ Das sieht auch der Sprecher der Österreichischen Patientenanwälte, Dr. Gerald Bachinger, so: „Die Medizin muss noch viel stärker als bisher auf die spezielle Lebenswelt der Patienten eingehen. Um nachhaltige Verhaltensänderungen zu bewirken, sind daher sehr differenzierte Appelle notwendig.“
Bleibt am Ende nur noch zu klären, wie sich eine solche Differenzierung im bestehenden System abbilden lässt. Neue Tools und Werkzeuge, etwa webbasierte Lösungen, könnten dabei ebenso dienlich sein wie alternative Schwerpunktsetzungen, etwa bei der Leistungsvergütung, Stichwort: Aufwertung der Gesprächsmedizin. Denn letztendlich stelle das Arzt-Patienten-Gespräch den „Entscheidungsplatz im Gesundheitssystem“ dar, wie es Dr. Peter Nowak, Abteilungsleiter Gesundheit und Gesellschaft bei der Gesundheit Österreich GmbH, formuliert hat.
Es komme dabei nicht nur darauf an, sich die notwendige Zeit für solche Gespräche zu nehmen, sondern auch die Kompetenz dafür zu haben, diese für den Patienten partnerschaftlich, wertschätzend und informativ zu gestalten. Entscheidend sei am Ende nicht, was der Arzt dem Patienten sagt, sondern das, was beim Patienten davon verständlich ankommt.               vw