Onkologie maßgeschneidert
Personalisierte Medizin ist ein vielversprechender, mitunter umstrittener und zweifellos hochsensibler Therapiebereich, für den es Fingerspitzengefühl braucht. Der Onkologe Doz. Dr. Stefan Wöhrer kann nicht nur auf eine fundierte Ausbildung, sondern auch auf die erste Ordination für personalisierte Medizin in Österreich verweisen.
Personalisierte Medizin bezieht individuelle genetische Faktoren in die Krankheitstherapie ein und eruiert so die individuell am besten geeignete Therapie mit den geringsten Nebenwirkungen und den höchsten Heilungschancen. Doch genau hier ist auch der hochsensible Bereich zu finden, der Ärzte vor große Herausforderungen stellt: die Kenntnis über potenzielle Krankheitsfaktoren, die der Patient nicht zwingend kennen will und soll, denn die durch die personalisierte Medizin (PM) gewonnenen Erkenntnisse sind für den Patienten nur sinnvoll, wenn sich eine unmittelbare Konsequenz daran anschließt. Dennoch ist Doz. Dr. Stefan Wöhrer, Onkologe mit klinischer Ausbildung an der Medizinischen Universität Wien und am Vancouver General Hospital in Kanada, überzeugt, dass „die personalisierte Medizin die Zukunft ist“. Um darauf bestens vorbereitet zu sein, nutzt er sein Know-how in der Onkologie und der Stammzellforschung, um insbesondere – aber nicht nur – Krebspatienten, denen kaum mehr Therapieoptionen bleiben, eine Chance einzuräumen.
Als eindrucksvolles Beispiel für die Effizienz der PM mag die Entwicklung der Behandlung der chronischen myeloischen Leukämie (CML) gelten. Vor einigen Jahren konnte eine bestimmte genetische Veränderung identifiziert werden, die sogenannte BCR-ABL Translokation, die für die Entstehung der Erkrankung verantwortlich ist. „Ein neu entwickeltes Medikament – Imatinib – blockiert genau diese Veränderung. Dadurch kommt es zur Heilung der Erkrankung und die Patienten können wieder ein normales Leben führen. Früher hatten die Patienten eine mittlere Lebenserwartung von etwa fünf Jahren“, erzählt Wöhrer.
Genetische Analysen für alle
Mithilfe des von Wöhrer und dem privaten Investor Schneider Holding neu gegründeten Unternehmens Permedio werden genetische Analysen erstellt. Die Patienten sind vorrangig Krebspatienten. „Es gibt bereits einige Krebserkrankungen, bei denen von Beginn der Therapie an bestimmte genetische Mutationen gesucht werden, um bessere Therapieentscheidungen treffen zu können“, erklärt der engagierte Mediziner. „Die volle Bandbreite der personalisierten Medizin, bei der viele unterschiedliche Gene untersucht werden und dann entsprechend behandelt wird, ist im Moment allerdings hauptsächlich für Patienten gedacht, für die es keine wirkungsvolle Standardtherapie gibt. Das sind in erster Linie Patienten, die an einer unheilbaren Krebserkrankung leiden und die schon einige Therapielinien hinter sich haben. Es ist abzusehen, dass sich dies in Zukunft ändern wird, aber im Moment fehlt einfach noch die wissenschaftliche Evidenz, um gute Standardtherapien umzuwerfen.“
Grundsätzlich können die genetischen Analysen von Permedio von jedem Arzt österreichweit angefordert werden. Patienten aus anderen Landesteilen müssen sich nicht in Wöhrers Ordination bemühen, sondern eine Anfrage des behandelnden Arztes mit einer entsprechenden Probe genügt, um die genetische Analyse samt Interpretation anzufordern.
Erfahrungen und Aussichten
Neu ist der Ansatz der personalisierten Medizin freilich längst nicht mehr. Wöhrer war vor seinem Wechsel nach Wiener Neustadt an der Klinischen Abteilung für Onkologie von Prof. Zielinski beschäftigt und kennt die EXACT-Studie des Comprehensive Cancer Centers (CCC) am AKH Wien gut. Auch dort deuten Tests mit PM auf durchwegs positive Ergebnisse hin, die auch durch eine internationale Metastudie bestätigt werden (siehe Kasten). Dennoch verstehen viele – Mediziner wie Patienten – PM falsch oder erliegen Vorurteilen. Dass der Umgang mit derart hochsensiblen Daten ein besonders feinfühliger und wohldurchdachter sein muss, versteht sich von selbst, ist jedoch auch Quelle von Ängsten. „Wir arbeiten bei Permedio sehr konservativ und gehen äußerst vorsichtig mit den gewonnen Informationen um“, versichert Wöhrer. „Patienten mit geringen Heilungschancen diese letzte Chance zu gewähren, macht mich jedoch überzeugt davon, dass der Weg der richtige ist.“ Dem häufigen Kritikpunkt, dass die PM die Zwei-Klassen-Medizin noch zusätzlich fördere, widerspricht Wöhrer nicht gänzlich. „Grundsätzlich haben in Österreich alle Patienten Zugriff auf die bestmöglichen, evidenzbasierten Therapieoptionen. Die personalisierte Krebsmedizin ist allerdings noch nicht evidenzbasiert und wird deshalb von den Kassen nicht übernommen. Wenn Patienten jetzt schon diese Art der Therapie in Anspruch nehmen wollen, müssen sie einen Großteil der Kosten selber tragen. Grundsätzlich halten sich die Kosten allerdings in Grenzen und sollten für die meisten Österreicher erschwinglich sein. Die Kosten liegen vergleichsweise im Bereich von Zahnimplantaten und fixen Zahnspangen.“
Abgesehen von der Onkologie liegt in vielen anderen Fachgebieten großes Potenzial. So verspricht sich der Arzt beispielsweise bei der Früherkennung von kardiovaskulären, neurologischen und Stoffwechselerkrankungen schon bald bahnbrechende Erkenntnisse. „In den kommenden Jahren werden mit hoher Wahrscheinlichkeit alle Bereiche der Medizin betroffen sein“, ist Wöhrer zuversichtlich. „Erbliche Erkrankungen, bzw. Erkrankungsneigungen, sowie die Vorhersage von Medikamentenwirkungen und -nebenwirkungen sind kurz vor dem Durchbruch.“ Feinfühligkeit wird aber auch weiterhin ein wesentlicher Faktor der PM bleiben, denn „wir wissen mehr, als wir anwenden können“, gibt Wöhrer zu denken. bw
Nachgefragt bei ...
... Doz. Dr. Stefan Wöhrer
Lassen sich die Erfolge der personalisierten Medizin in Zahlen ausdrücken?
Wöhrer: Im November 2015 wurde von Schwaederle und Kollegen im Journal of Clinical Oncology eine Metaanalyse publiziert*. Dabei handelt es sich um eine systematische Zusammenfassung von 570 Studien mit insgesamt mehr als 32.000 Patienten. Es zeigte sich ein hoch signifikanter Unterschied: Durch die personalisierte Medizin konnte die Ansprechrate von 10,5 auf 31 % verdreifacht und das Gesamtüberleben um 53 % von 8,9 auf 13,7 Monate verlängert werden. Die Rate an tödlichen Nebenwirkungen konnte von 2,3 auf 1,5 % um 35 % gesenkt werden.
Wie ist in Österreich die Resonanz auf Ihr Angebot – bei Patienten wie auch bei Kollegen?
Es besteht sowohl bei Kollegen als auch bei Patienten ein großes Interesse an diesem Service. Ich glaube, es ist allerdings auf beiden Seiten noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Bevor ich ein personalisiertes Therapiekonzept erstelle, ist ein Aufklärungsgespräch mit den Patienten unbedingt erforderlich. Wenn es gut etablierte Therapieoptionen gibt, die noch nicht angewandt wurden, sind sie jedoch die Erstpräferenz.
Warum gibt es noch nicht mehr Angebote in personalisierter Medizin?
Ich glaube, es gibt zwei Hauptgründe, warum die personalisierte Medizin noch nicht öfter angeboten wird. Erstens ist personalisierte Medizin ein sehr komplexes Gebiet, da es zu einem Zusammentreffen von Medizin, molekular Biologie, Bioinformatik und Statistik kommt. Die Schnittstellen müssen fließend ineinander übergehen, um zu einem konkreten Ergebnis zu kommen. Zweitens passt die personalisierte Medizin nicht so ganz in unser vorherrschendes System der evidenzbasierten Medizin. Die evidenzbasierte Medizin beruht auf Studien, bei denen man gezwungen ist, individuelle Patienten in Gruppen zu drängen, die dann miteinander verglichen werden können.
Wo sehen Sie die personalisierte Medizin in zehn, fünfzehn Jahren?
Ich würde mir wünschen, dass die personalisierte Medizin in frühere Behandlungslinien Einzug findet und für jedermann erschwinglich wird bzw. dass die Kosten von den Versicherungsträgern übernommen werden. Die personalisierte Medizin wird in einigen Jahren die Drehscheibe der Humanmedizin werden und bestimmte schwerwiegende Erkrankungen können dann eliminiert werden.
* Schwaederle et al, JCO 2015