Neurochirurginnen auf den Barrikaden
Viel Wirbel löste kürzlich das Buch „Dachschaden – Zwei Neurochirurginnen decken auf“ von Dr. Marion Reddy und Dr. Iris Zachenhofer aus – bis hin zu mehreren Berichten in den TV-Nachrichten. Mutig sind die beiden Ärztinnen allemal, aber erreichen sie auch tatsächlich ein Umdenken?
Die Motivation, Patienten zu helfen und dabei ein gutes Leben zu führen, sei anfangs hoch gewesen, sagen die beiden Autorinnen – bis sie feststellten, dass „es nicht um die Patienten geht, sondern etwa um die Selbstbestätigung narzisstischer Neurochirurgen“. Nun war es an der Zeit, „Courage zu zeigen und die Probleme der Neurochirurgen endlich einmal offen anzusprechen“ – Probleme, die laut den Autorinnen von schlechter Ausbildung, über Demütigungen, unnötige Operationen bei Sonderklasse-Patienten, „Wegoperieren“ in der Nacht, Suchtproblemen, gescheiterten Beziehungen bis hin zu Suizidgedanken unter Ärzten reichen.
Warum richtet sich ein Buch wie dieses nicht an das System, etwa an die Politik oder die Ärztekammer, die die Möglichkeit haben, Veränderungen und Verbesserungen vorzunehmen? „Wir haben uns deshalb an die Öffentlichkeit gewandt, weil wir seit Jahrzehnten keine Verbesserungen gesehen haben“, sagen die beiden Ärztinnen dazu. „Man kann diese Diskussion nicht mehr im stillen Kämmerlein führen. Wir sind in der privilegierten Situation, in diesem Fach nicht mehr arbeiten zu müssen und können deshalb so offen darüber reden. Wir sehen uns als Sprachrohr für viele, die sich aufgrund ihrer beruflichen Situation niemals beschweren dürfen, die mundtot gemacht sind, so wie wir es lange Zeit auch waren.“
Entsetzte Laien
Als Laie ist es schwer, die geschilderten Zustände – ob sie nun überzeichnet sind oder nicht – nicht entsetzlich zu finden. Selbst wer den Schilderungen keinen Glauben schenkt, wird bei anstehenden neurochirurgischen Eingriffen unweigerlich daran denken und vielleicht die eine oder andere Frage zusätzlich stellen. Zachenhofer und Reddy betonen im Interview, dass sie immer darauf bestanden haben, dass es auch ausgezeichnete Neurochirurgen gibt, „richtige Genies“. Es sei ihrer Ansicht nach aber wichtig, sich mehrere Meinungen anzuhören und dann erst zu entscheiden. „Wenn man einen Computer kauft, nimmt man ja auch nicht gleich den erstbesten, sondern vergleicht einmal die Angebote.“ Daher betonen sie, „dass wir uns selbst niemals im Leben von jemandem operieren lassen würden, der nicht selbst die Einwilligungserklärung mit einem macht. Da kann man ja dann schon damit rechnen, dass so ein Chirurg auch weg ist, wenn es nach der OP eine Komplikation gibt. In einem Krankenhaus, wo man völlig sinnlos wochenlang stationär liegt oder dreimal hintereinander abgesetzt wird, würden wir auch die Koffer packen.“ Zudem wollen sie Tatsachen nicht mehr verschweigen, nur um selbstgefällige Oberärzte zu schützen.
Nicht nur Neurochirurgie
Was sich laut den beiden Autorinnen rasch herausstellte, ist dass die geschilderten Missstände längst nicht nur die Neurochirurgie betreffen. „Was uns dann doch etwas überrascht hat, waren die vielen Meldungen von anderen Ärzten aus allen möglichen Bereichen der Chirurgie, die uns gesagt haben, dass es bei ihnen ähnlich läuft“, sagt Zachenhofer. In welchem Ausmaß welches Fachgebiet betroffen sei, ließe sich nicht einschätzen. Grundsätzlich sei aber bekannt, dass bei Ärzten beispielsweise Suchterkrankungen häufiger auftreten als in der Gesamtbevölkerung. „Thematisiert wird das nie, weil die Gefahr besteht, die Zulassung zu verlieren. Aber diese Probleme gehören thematisiert, sonst wird man sie nie lösen können“, sagen die Autorinnen.
Letztlich ist die Heldin des Buchs eine fiktive Person, in die aber alle Erlebnisse einfließen, die entweder den Autorinnen oder Kollegen in Österreich, Deutschland oder der Schweiz widerfahren sind. „Alle Neurochirurgen haben hochmotiviert begonnen am Anfang ihrer Karrieren. Die Frage ist, was dann passiert ist, wie kaputt das System viele gemacht hat“, stellen die Ärztinnen in den Raum. Narzissmus sei nicht immer negativ, vor allem in einer milden Ausprägung eher hilfreich für Erfolg und Selbstbewusstsein, doch „der Übergang zum selbstsüchtigen, empathielosen Narzissten ist dann fließend“ und der sei unter Neurochirurgen besonders häufig vertreten.
Schuld an der Misere sei das „Hauptproblem im deutschsprachigen Raum“: die hierarchischen Strukturen, die es möglich machen, dass Ärzte in ihrer Ausbildungszeit nicht ausreichend geschult würden, sondern völlig nicht-arztspezifische Tätigkeiten erfüllen. Daher käme auch die Bezeichnung „Neurochirurgen mit der Lizenz zum Töten“, denn „mit dem Facharztdiplom dürfen Neurochirurgen alles operieren“.
Lösungsvorschläge inklusive
Der Kritik, nur laut zu schreien und zu beschuldigen, setzen sich Reddy und Zachenhofer nicht aus. „Dachschaden“ beinhaltet ein Kapitel über „notwendige Reformen“. Chefarztposten und ihre Stellvertreter sollten nur mehr befristet vergeben werden, denn „drei Jahre in der Position des Chefarztes sind genug“. Ausbildner müssten von auszubildenden Ärzten anonym bewertet werden. „Professoren, die sich hartnäckig weigern zu lehren, gehören nicht mit der Ausbildung der Assistenzärzte betraut.“ Die Abteilungen sollten zudem nur so viele Assistenzärzte aufnehmen dürfen, wie sie auch tatsächlich ausbilden können, sonst sei die logische Konsequenz, dass manche nicht operieren und erst als Fachärzte am Patienten üben. Weiters fordern die Autorinnen einen Ausbildungsplan, wie es ihn in vielen Ländern gibt, denn „eine reglementierte Ausbildung schafft Gerechtigkeit und Ausgleich“. Es sei ratsam, dass die Ausbildung an unterschiedlichen Abteilungen stattfindet, um eine Vielfalt der Kompetenzen zu gewährleisten. Und schließlich sollte Medizin etwas kosten dürfen. „Es hat wenig Sinn, in einem System, wo sich die meisten Ärzte ohnehin schon wie blöd abrackern, noch mehr einzusparen, wenn wir eine ordentliche medizinische Versorgung wollen.“
Die Gesellschaft der Neurochirurgie sieht keine Probleme in der Ausbildung, andere Neurochirurgen bezeichnen die beschriebenen Situationen als Einzelfälle, die sie nie erlebt hätten. Doch selbst wenn das Buch nur exemplarisch Missstände aufgezeigt hat, so hat es jedenfalls eine Diskussion ausgelöst. bw