Multimorbidität als Herausforderung
Ein Übel kommt selten allein. Als wäre eine HIV-Infektion nicht schon Bürde genug, kann die Diagnose nicht nur über die damit verbundene Angst Trigger für eine reaktive Depression sein, sondern die Erkrankung selbst zu entsprechenden Veränderungen im Gehirnstoffwechsel führen, die eine endogene Depression verursachen oder eine HIV-Enzephalopathie hervorrufen.
Angst haben die Betroffenen zunächst vor der Entdeckung ihrer Infektion durch das Umfeld und der damit verbundenen Stigmatisierung, vor dem zukünftigen Umgang mit Sexualität oder der Kinderwunschthematik. Die potenzielle Lebensbedrohung ist demgegenüber bei rechtzeitiger Diagnose und Therapie im Vergleich zu früher in den Hintergrund getreten. Das ist allen lebensbedrohlichen Erkrankungen gemeinsam: Die Diagnose löst Angst aus, die letztlich in eine Depression münden kann. Man unterscheidet grundsätzlich drei kritische Phasen: zunächst die Mitteilung des positiven Testergebnisses, den konkreten Therapiebeginn sowie eventuelle Umstellungen in der Kombinationstherapie.
Treten körperliche Symptome wie das Kaposi-Sarkom auf oder kommt es zu opportunistischen Infektionen, stellt das eine zusätzliche Belastung dar. Weiters spielen Ängste vor gesellschaftlichen Auswirkungen eine wesentliche Rolle. Das betrifft etwa soziale Vorurteile, Verlust von Bezugspersonen, Freunden, des Arbeitsplatzes oder finanzielle Einbußen. Nicht zuletzt sind es bestimmte antiretrovirale Medikamente selbst, die stimmungsverschlechternd, ermüdend oder sogar depressionsverstärkend wirken können. Dringt das Virus in das Gehirn ein oder kommt es zu opportunistischen Infektionen, kann das zu Veränderungen des Gehirnstoffwechsels führen, die eine Depression zur Konsequenz haben.
Symptome vermindert
Eine weitere potenzielle Auswirkung der Infektion ist die HIV-Enzephalopathie, die in ihrer Symptomatik einer Alzheimer-Demenz ähnelt. Die HAND (HIV-associated neurocognitive disorder) ist eine viral induzierte Gehirnerkrankung und gekennzeichnet durch motorische (Störung der Feinmotorik), kognitive (Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Verlangsamung von Auffassung und Reagibilität) und emotionale (Verlust von Initiative und Antrieb, sozialer Rückzug mit Verlust sozialer Kompetenz, Depressivität und verminderte emotionale Schwingungsfähigkeit) Defizite. Sie kann zu schwerer Demenz sowie zu einer spastischen Tetraparese mit Blasenstörung und Mutismus führen.
Die HAART (highly active antiretroviral therapy)-Ära konnte die neuropathischen Störungen zwar nicht eliminieren, hat das reale Symptombild aber erheblich verändert. Vor der HAART standen im Vordergrund: subcorticale Apathie und schwere psychomtorische Verlangsamung, progressiver Gedächtnisverlust, Riesenzell-Enzephalitis mit Nervenzellverlust. Heute sieht die Symptomatik folgendermaßen aus: eine wesentlich mildere corticale bis subcorticale Symptomatik, synaptodendritische Schäden mit geringerer zentralnervöser HIV-Replikation. Man unterscheidet als mildeste Form die ANI (asymptomatic neurocognitive impairment), gefolgt von MND (mild neurocognitive disorder) und nur mehr selten kommt es tatsächlich zur HAD (HIV-assoziierten Demenz). ANI kann nur mit entsprechenden Tests identifiziert werden, da im täglichen Leben keine relevanten Symptome auftreten.
Wechselwirkungen berücksichtigen
Behandelt wird wie bei anderen Depressionen auch mit Pharmako- und Psychotherapie, nur mit einem wesentlichen Unterschied: Es sind die potenziellen Wechselwirkungen der HAART mit anderen Substanzen zu berücksichtigen. Rund 3.600 Patienten oder 92,7 % stehen unter diese Behandlung. Schlagwort: Isoenzyme des Cytochrom P 450 Systems. Tatsächlich kann die Kombination von HAART mit Antidepressiva zu massiven Nebenwirkungen führen. HAART ist eine hochaktive antiretrovirale Kombinationstherapie aus mindestens drei Arzneimitteln mit einem sehr günstigen Einfluss auf den Verlauf und die Lebensverlängerung. Es kann grundsätzlich zu Wechselwirkungen zwischen einzelnen Medikamenten kommen. Hier gilt es zu berücksichtigen, dass Psychotherapie bei leichter und mittlerer Depression potenziell ebenso wirksam ist wie Pharmakotherapie: längst bewiesen, nicht allen bekannt, aber in diesem Zusammenhang sicher besonders bedeutsam. Psychotherapie kann darüber hinaus die Therapieadhärenz verbessern und versuchen, die Stigmatisierung aufzuarbeiten.
Betrachtet man die HIV-Erkrankung aus dem psychologisch-psychiatrischen Blickwinkel, dann bietet sie ein schwer zu identifizierendes Bild. Die Häufigkeit HIV-Enzephalopathie ist durch die HAART deutlich geringer geworden, da die Therapie früher begonnen wird und effizienter ist. Die neurokognitiven Funktionsstörungen sind milder geworden und in ihrer Frühphase nur mit erheblichem Aufwand diagnostizierbar. Ass.-Prof. Dr. Armin Rieger, AKH-Wien: „Nicht alle Zentren haben die Möglichkeit, diesen Einsatz an Personal und Zeit zu leisten.“ Die neurokognitiven Funktionsstörungen beginnen aufgrund der stark verbesserten Therapie also schleichend, oft mit Vergesslichkeit, die den Betroffenen selbst gar nicht so sehr bewusst ist. Ein wesentliches Problem stellen in diesem Zusammenhang verschiedene Co-Morbiditäten dar, zu denen kardiovaskuläre und zerebrovaskuläre Erkrankungen ebenso gehören wie eine erhebliche Inzidenz von Hepatitis C oder der Drogenkonsum.
All diese Co-Faktoren können auch selbst zu neurokognitiven Veränderungen führen, sodass die Zuordnung nicht immer einfach ist. Reguläre psychologische Betreuung gibt es im Regelfall nur bei stationären Aufenthalten. Mit Beginn der ambulanten Behandlung fällt die regelmäßige Begleitung meist weg. Die verschiedenen AIDS-Hilfen versuchen zwar mit ihren Angeboten einzuspringen, aber dennoch gibt es hier ein erhebliches Defizit, da die Möglichkeiten des Gesundheitssystems deutlich überfordert sind. ws
HIV in Kürze
Der UNAIDS-Report berichtete 2012 von 34 Millionen HIV-Betroffenen. Das sind 0,8 % der Weltbevölkerung zwischen dem 15. und 49. Lebensjahr. In Teilen Zentralafrikas (Sub-Saharan Africa) liegt die Häufigkeit allerdings bei nahezu 5 % und diese Region stellt 69 % der Erkrankten sowie 71 % der Neuinfektionen. Mit 5 Millionen Infizierten sind Süd- und Ostasien weitere Brennpunkte. Gehäuft tritt die Infektion auch in folgenden Regionen auf: Karibik, Ost-Europa und Zentralasien.Wenngleich insgesamt die Zahl der Betroffenen allerdings mit deutlich verminderter Intensität weiter ansteigt, ist zwischen 2001 und 2011 die Zahl der Neuinfektionen um 20 % zurückgegangen.
Die Österreichische HIV-Kohortenstudie legt in ihrem Bericht vom Februar 2013 folgende Zahlen vor: Je nach Höhe der Schätzung der undiagnostizierten Infektionen – 25 % bis 33 % des Gesamtwertes – beträgt die Zahl der Betroffenen bis zu rund 8.500. Die Zahl der positiven HIV-Tests (Gesamtzahl rund 830.000/Jahr) ist nach einem Spitzenwert von 352 (2008) im Jahr 2012 mit 286 erneut leicht rückläufig. Dieser Wert repräsentiert aber nur die diagnostizierten Neuerkrankungen, nicht die Dunkelziffer und ist deutlich nach unten von jenem Wert abweichend, den etwa das Gesundheitsministerium angibt. Die Kohorte umfasst allerdings „nur“ die großen spitalbasierten Behandlungseinheiten. Das Verhältnis Männer zu Frauen beträgt etwa 3:1.
Die wesentlichen Infektionswege sind MSM (men having sex with men = Homosexualität), heterosexuelle Kontakte und intravenöser Drogenabusus. Die Häufigkeit entspricht dieser Reihenfolge. Andere Infektionswege wie Blutprodukte spielen eine untergeordnete Rolle. Mit optimaler Betreuung in der Schwangerschaft übertragen HIV-Mütter das Virus kaum noch an ihr Kind (<1% in großen Kohorten). 4.153 der Infizierten stehen unter antiviraler Therapie und sind in der Österreichischen Kohortenstudie (AHIVCOS) erfasst.
Wissenschaftlicher Leiter der Studie ist Univ.-Prof. Dr. Robert Zangerle von der MedUni Innsbruck. Der rezente Bericht enthält aber noch weitere interessante Details – so etwa das erneute Ansteigen von Syphilis-Neuinfektionen, vor allem in der Subgruppe der MSM. Aufgrund der stark verbesserten Therapie und der Möglichkeit, mit HIV zu leben, ohne an AIDS zu erkranken, ist die Bereitschaft, ein Kondom zu verwenden, deutlich zurückgegangen. Eine Kurzpräsentation der Daten zum Stand der Epidemiologie Ende 2012 in Österreich kann unter http://dermatologie.uki.at/page.cfm?vpath=forschung/hivaids-forschung abgerufen werden.