Männersache Gesundheit
Die Sinnhaftigkeit einer geschlechterspezifischen Differenzierung bei Gesundheitsvorsorge und Therapie ist zwar längst unbestritten, Gendermedizin steckt aber noch in den Kinderschuhen. Dabei hat alles so gut begonnen damals in Wien.
Männer sterben um sechs Jahre früher als Frauen. Männer haben überproportional hohe Anteile bei Sucht- und Kreislauferkrankungen, Leberzirrhose oder Lungenkrebs. Ihre dreimal so hohe Selbstmordrate steht im krassen Widerspruch zur Krankenhaushäufigkeit von psychischen Erkrankungen, die bei Männern und Frauen etwa gleich hoch ist, und zu den Selbstauskünften im Mikrozensus, wonach bei allen Beschwerden, die auf eine psychische Krankheit hinweisen können, der Anteil der betroffenen Frauen deutlich höher war als jener der Männer. Depressionen und psychische Probleme werden vom starken Geschlecht als Schwäche angesehen und solange irgendwie möglich ignoriert, viel zu oft eben zu lange, bis es dann keinen Ausweg aus der Katastrophe mehr gibt.
Dieses Phänomen passt gut in das allgemeine Bild: Männer empfinden sich selbst als deutlich gesünder als Frauen dies tun. Sie gehen auch seltener zum Hausarzt und noch seltener zu Vorsorgeuntersuchungen. In Notfallambulanzen sind sie dafür viel eher anzutreffen.
Da klafft also offenbar ein tiefes Loch zwischen Realität und Selbsteinschätzung. Schon allein daraus lässt sich eine Berechtigung für männerbezogene gesundheitspolitische Aktivitäten ableiten. Dazu gesellen sich aber noch eine Reihe weiterer Aspekte: So pflegen Männer einen deutlich ungesünderen Lebensstil, suchen vermehrt das Risiko im Verkehr und Freizeitverhalten und sehen in jeder Krankheit noch immer eine Form von Schwäche, die es als „starkes“ Geschlecht zu ignorieren oder zumindest zu unterdrücken gilt.
Kürzere Lebenserwartung
Ein neugeborenes Mädchen durfte 2009 mit einer Lebenserwartung von 82,9, ein Bub mit 77,4 Jahren rechnen. Die häufigsten Todesursachen bei Männern sind wie bei Frauen Herz-Kreislauferkrankungen und Krebs. Auffällig ist die vergleichsweise hohe Todesrate durch Lungenkrebs. Beinahe drei Viertel aller Todesfälle aufgrund von Lungenkrebs im Zeitraum 1992 bis 2001 betrafen Männer.
Auch bei anderen Lungenkrankheiten – vor allem chronisch obstruktiven Lungenkrankheiten und Lungenentzündungen – ist die Mortalitätsrate bei Männern signifikant höher. Knapp 2.000 Männer sterben in Österreich jährlich an Lungenkrankheiten, doppelt so viele wie Frauen. Die Krankenhaushäufigkeit aufgrund von Lungenkrankheiten ist bei Männern ebenfalls um die Hälfte höher als bei Frauen, wobei der geschlechtsspezifische Unterschied bei den über 45-Jährigen besonders deutlich wird.
Eine weitere typisch männliche Erkrankung betrifft die Leber. In Österreich sterben jährlich rund 1.200 Männer, aber nur etwa halb so viele Frauen, an chronischer Leberkrankheit und Leberzirrhose. Mit dieser Mortalitätsrate von 30 Männern pro 100.000 Einwohner liegt Österreich höher als alle anderen westeuropäischen Länder. Die Entwicklung ist aber parallel zum europäischen Trend seit 1992 rückläufig. Auch was die Krankenhaushäufigkeit betrifft, übertrumpfen die Männer die Frauen bei Weitem.
Die häufigste externe männliche Todesursache bei österreichischen Männern ist der Selbstmord. In den vergangenen zehn Jahren nahmen sich jährlich rund 1.200 Männer freiwillig das Leben, das sind 40 Prozent aller externen Todesursachen und fast doppelt so viele Tote wie durch Verkehrsunfälle. Auch in diesem Ranking liegen österreichische Männer im europäischen „Spitzenfeld“, nur in Finnland, Ungarn und zuletzt in Belgien ist die Rate noch höher.
Übertrieben „gesunde“ Selbsteinschätzung
78 Prozent der Männer, aber nur 73 Prozent der Frauen beurteilen ihre Gesundheit als „gut“ oder sogar „sehr gut“. Diese Diskrepanz ist nicht allein ein österreichisches Phänomen, es hat – das belegen internationale Studien – für den gesamten EU-Raum Gültigkeit. Abgesehen davon beurteilen sowohl Männer als auch Frauen in Österreich ihren Gesundheitszustand deutlich positiver als der EU-Durchschnitt.
Die Realität sieht leider ganz anders aus: 45 Prozent der österreichischen Männer sind übergewichtig, ein Drittel davon gilt als krankhaft fettleibig (Adipositas). Sieben von acht Männern weisen mindestens einen Risikofaktor für eine Herzerkrankung oder einen Schlaganfall auf. Nur 25 Prozent der Männer mit Bluthochdruck nehmen auch Medikamente dagegen ein. Obwohl Hodenkrebs die häufigste Krebserkrankung unter Männern zwischen 20 und 40 Jahren ist, unterlassen es 87 Prozent der Männer, ihre Hoden untersuchen zu lassen. Ähnlich verhält es sich bei Prostatakrebs.
Vorsorgemuffel mit ungesundem Lebensstil
Vorsorge und gesunder Lebensstil zählen also nicht unbedingt zu den großen Stärken des starken Geschlechts. Dabei wären genau diese Maßnahmen gute Verbündete im Kampf gegen viele Krankheiten. Der ungesunde Lebensstil der Männer beginnt bei der falschen Ernährung, die durch ein deutlich höheres Ausmaß an fleischreichen und deftigen Speisen gekennzeichnet ist, und endet bei der Neigung zur beruflichen und freizeitlichen Überbeanspruchung des Körpers aufgrund der vorherrschenden Rollenerwartungen.
„Indem sie sich ungesund verhalten, wollen Männer allen zeigen: Ich bin ein richtiger Mann! Die Folgen finden wir dann eins zu eins in den Gesundheitsdaten wieder“, resümiert Mag. Romeo Bissuti, Psychologe und geschäftsführender Leiter von MEN (siehe auch Interview auf Seite 38). Dazu kommen noch stetig steigende Belastungen in der Arbeitswelt, vermehrt unsichere Arbeitsverhältnisse und „zerfranste Berufsbiografien“, die den Druck immer weiter erhöhen würden, sagt Bisutti: „Männer wählen dann den Weg, dass sie nicht darüber reden, es nicht nach außen zeigen. Sie wollen viel lieber vermitteln: Ich bin erfolgreich, ich bin in einer Alpha-Position oder auch: Ich kann meine Familie ernähren. Das rächt sich spätestens dann, wenn die Life-Balance nicht mehr gegeben ist. Zu diesem Thema fehlt mir aber leider bis heute der breite gesellschaftliche Diskurs.“ Da sei man in anderen Ländern, etwa in Skandinavien, schon sehr viel weiter.
Das männliche Rollenbild hat also unmittelbare Auswirkungen auf die vorsorglichen Arztbesuche. Schon Buben wachsen damit auf, „hart, tapfer und unabhängig“ zu sein oder sich selbst als ein „Indianer, der keinen Schmerz kennt“ zu positionieren.
Kurz gesagt: Männer sind Vorsorgemuffel. Und auch wenn diese Erkenntnis nicht neu ist, so hat sie leider nichts an Aktualität verloren. Schon 2003 versuchte das Gesundheitsministerium mit der Kampagne „Männersache Gesundheit“– Männer zu einer gesunderen Lebensweise zu bewegen und ihnen Vorsorgeuntersuchungen als sinnvolle Präventivmaßnahme schmackhaft zu machen. Mit mäßigem Erfolg allerdings. Frank Sommer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Mann und Gesundheit und weltweit erster Professor für Männergesundheit an der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf hat das Phänomen einmal treffend auf den Punkt gebracht: „Wir sagen gerne: Frauen betreiben Vorsorgemedizin, Männer hingegen Reparaturmedizin.“
Ein konkretes Beispiel zur Untermauerung der These: Bei Hautkrebs zeigen die statistischen Daten eine gleich hohe Verteilung unter Männern und Frauen. Die Wahrscheinlichkeit, daran zu sterben, ist bei Männern aber viermal so hoch. Dies ist einzig und allein auf den Umstand zurückzuführen, dass Frauen wesentlich früher zum Arzt gehen.
Vergangene Vorreiterrolle
Österreich war einst europaweit Impulsgeber bei Aktivitäten zur Männergesundheit. Im vergangenen Jahrzehnt finden sich dazu gleich mehrere international bedeutende Meilensteine: 2001 wurde die Internationale Gesellschaft für Männergesundheit (International Society for Men‘s Health and Gender, ISMH) in Österreich gegründet. 2004 veröffentlichte das österreichische Bundesinstitut für Gesundheitswesen (ÖBIG) den „1. Österreichischer Männergesundheitsbericht mit besonderer Berücksichtigung der Männergesundheitsvorsorge“, damals in dieser Form einzigartig im europäischen Raum. Sein Ziel war, Kriterien herauszuarbeiten, die Männer vermehrt zu Vorsorge und Lebensstiländerung bewegen. Obwohl entsprechende weiterführende Nachfolgeprojekte mehrmals angekündigt wurden, zuletzt erst für das Frühjahr 2011, haben sich deren Spuren bis heute irgendwo in der Bürokratie verloren.
2005 erarbeitete das Europäische Forum für Männergesundheit die „Wiener Erklärung zur Männer- und Burschengesundheit in Europa“ und stellte diese auf dem „World Congress on Men‘s Health and Gender“ zur Diskussion. Das Papier stellt unter anderem fest: „Die Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung und -informationen durch Männer ist in Europa generell unbefriedigend. Das konkrete und informative Angebot im Gesundheitsbereich ist oft nicht auf Männer zugeschnitten. Im Bereich der Männergesundheit besteht ein Mangel an Forschung und Investitionen. Die Lebenserwartung von Männern in Europa ist unnötig niedrig. Die Sterberaten aufgrund vermeidbarer Ursachen sind für alle Altersgruppen inakzeptabel hoch.“
In der Wiener Erklärung finden sich in der Folge auch konkrete Forderungen, die zu einer Verbesserung dieser unbefriedigenden Situation beitragen sollen.
- Männergesundheit als einen eigenständigen und wichtigen Bereich anzuerkennen,
- die Einstellung von Männern in Gesundheitsfragen genauer zu erfassen,
- in männerorientierte Ansätze der Gesundheitsversorgung zu investieren,
- auf Schul- und Gemeindeebene die Gesundheit von Männern und Jungen zu thematisieren,
- eine koordinierte Gesundheits- und Sozialpolitik zur Förderung der Männergesundheit zu entwickeln.
Umgesetzt wurde davon in Österreich wie auch in den meisten anderen europäischen Ländern bisher wenig, ausgenommen Skandinavien und zum Teil auch Deutschland, wo man heute schon einen deutlichen Schritt weiter ist. Ein gutes Beispiel dafür ist die Arbeit des Zentrums für Geschlechterforschung in der Medizin (GiM) an der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Seit 2003 werden dort Geschlechterunterschiede in Gesundheit und Krankheit systematisch untersucht und diese Erkenntnisse den Studierenden im Rahmen der Lehre zugänglich gemacht.
Männerorientierte Gender-Medizin
Männer sind im gesundheits- wie im Krankheitsverhalten anders als Frauen. Unterschiede in der Anatomie, der genetischen und hormonellen Ausstattung, aber auch Lebensstilfaktoren zeichnen dafür verantwortlich. Das hat Folgen für den Verlauf von Krankheiten, deren soziale Auswirkungen auf das Leben der Kranken oder auch die Wirkung von Medikamenten. Das Gesundheitswesen steht daher vor der Aufgabe, in Zukunft geschlechtssensibler zu agieren. Aus gesundheitspolitischer Sicht sollte das Ziel dabei nicht so sehr in der Ausweitung der bestehenden Versorgungsleistungen bestehen, sondern vielmehr in der Erhöhung der Bedürfnisorientierung und damit der Treffsicherheit des Angebots.
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„Wir leisten Pionierarbeit“
In der Wiener Erklärung wurde eine Reihe von Forderungen bezüglich der Weiterentwicklung einer speziellen Männergesundheit formuliert, unter anderem die Anerkennung eines eigenständigen Bereiches „Männergesundheit“ und eine koordinierte Gesundheits- und Sozialpolitik zur Förderung der Männergesundheit. ÄrzteEXKLUSIV fragte Mag. Romeo Bissuti, Klinischer und Gesundheitspsychologe, geschäftsführender Leiter von MEN, Gesundheitszentrum für Männer und Burschen, nach sichtbaren Konsequenzen daraus.
Hat die Wiener Erklärung Fortschritte initiiert?
Ich fürchte, sie ist heute genauso aktuell und relevant wie zum Zeitpunkt ihres Entstehens. Bisher wurde kaum etwas umgesetzt. Ein Problem ist, dass zu diesem Thema kaum politische Akteure identifizierbar sind, die das Thema entsprechend treiben könnten. Es ist natürlich eine heiße Kartoffel, auf die niemand gerne hingreift, weil man sich leicht die Finger verbrennt. Man könnte schnell unter Verdacht geraten, gegen Frauen zu sein. Darin liegt wohl das Hauptproblem, weil sachliche Gründe sehe ich keine für die vorherrschende Inaktivität. Die Probleme sind seit 2004 in Wahrheit noch größer geworden.
Für Männer zu arbeiten wird aus Ihrer Sicht also oft gleichgesetzt mit einem frauenfeindlichen Bild?
Ja leider. Verstärkt hat sich die Problematik noch mit den knapper werdenden Budgetressourcen, die den Verteilungskampf um das wenige Geld für Förderungen noch verstärkt haben. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Viele Frauenförderprogramme brauchen begleitende Männerprojekte, um wirklich gut zu funktionieren. Notwendig ist daher ein ganzheitlicher Ansatz: Man muss die Männer mit ins Boot holen.
Was sind die Hauptzielrichtungen der Initiative MEN?
Unsere zwei wichtigsten Aufgaben sind einerseits individuelle Beratungen in allen gesundheitsrelevanten Fragen und andererseits gesundheitsfördernde Vorsorgeprojekte, also etwa Workshops oder Vorträge. Einen besonderen Schwerpunkt legen wir auf psychische Probleme. Gerade bei Männern wird ja nach wie vor die psychische Gesundheit oft stark vernachlässigt oder tabuisiert. Daher sind gerade die psychologischen Aspekte von zentraler Bedeutung für uns, etwa auch die Frage: Mit welchen Rollenerwartungen ist Mann in der Gesellschaft konfrontiert und welche Auswirkungen haben diese Erwartungen auf sein Gesundheitsverhalten?
Wer sind Ihre Zielgruppen?
Unser Angebot richtet sich stark auch an sozial schwache, benachteiligte Männer. Sie kommen leider oft erst sehr spät in die Beratungen, wenn die Krise bereits am Höhepunkt ist. Mehr als die Hälfte unseres Klientels sind nicht in Österreich geborene Männer. Wir bieten Beratungen daher nicht nur in deutscher Sprache, sondern auch auf Türkisch, Serbokroatisch, Englisch, Französisch, Spanisch und zukünftig auch auf Russisch an.
Wie sollte mit dem Thema Männergesundheit zukünftig besser umgegangen werden?
Von den männlichen Patienten bzw. Klienten würde ich mir wünschen, dass sie sich das Recht heraus nehmen, fürsorglicher auf sich zu achten. Sie sollten ab und zu reflektieren und sich fragen: Wie geht es mir eigentlich? Wichtig wären darüber hinaus auch eine aktive Vorsorge, eine bessere Selbstpflege und ein entsprechend gutes Verhältnis zum Hausarzt. Es gibt in Österreich ein im europäischen Vergleich gutes Gesundheitsangebot, das auch entsprechend genützt werden sollte. Und was aus meiner Sicht besonders wichtig ist: Männer sollten offener für Ratschläge, aber auch für Kritik von außen sein, Signale der Umwelt aufnehmen und Rückmeldungen nicht aus einem falsch verstandenen Männlichkeitsbild heraus ignorieren, sondern ernst nehmen. Politisch gesehen wünsche ich mir, dass das Gender-Thema als geschlechterdifferenzierte Betrachtung wesentlicher, gesellschaftlich relevanter Gesichtspunkte behandelt wird, dass ein Thema unter weiblichen wie auch männlichen Aspekten betrachtet wird und es dafür auch benennbare politische Repräsentanten gibt.