Krankheit ohne Lobby
Es finden keine Benefizveranstaltungen für die Betroffenen statt, Promis tragen für sie keine bunten Maschen am Revers, keine Spendenaufrufe und keine blitzlichtschwangeren gesundheitsministerlichen Bemühungen. Auch niedergelassene Ärzte werden damit allein gelassen.
Die Rede ist von Patienten mit DFS – dem Diabetischen Fuß-Syndrom. Die Grundlage des DFS ist das Auftreten einer Polyneuropathie (PNP). 30 Prozent der Betroffenen leiden bereits bei der Erstdiagnose des Diabetes daran. Diese PNP führt – vereinfacht – zu einer „generalisierten Gefühllosigkeit der Füße“, womit jegliche Schmerzreize in Bezug auf Verletzungen oder Druckstellen durch Schuhe ausfallen. Es erfolgt quasi eine Entkoppelung der Füße vom Kopf bzw. vom Gehirn. Damit kommt es letztlich insofern zu einer „absurden“ Situation, als dass man üblicherweise ärztliche Hilfe aufsucht, wenn man Schmerzen fühlt. Dieses Warnsignal fehlt bei der PNP meist, sodass Betroffene erst viel zu spät oder gar nicht zum Arzt gehen, beziehungsweise oberflächliche Wunden auf Patientenseite nicht ausreichend ernst genommen werden.
Hohe Kosten
Die Kostenwahrheit zu diesem Problem kommt – wie so oft – aus dem Ausland: Diese Zahlen sagen, dass die Behandlungskosten ohne Amputation in den USA während zwei Jahren bei 28.000 US-Dollar liegen, mit Amputation bei bis zu 63.000 US-Dollar. Schweden beziffert die Kosten während drei Jahren ohne Amputation mit 15.000 bis 25.000 Euro, mit Amputation mit 60.000 Euro – 77 Prozent davon Folgekosten. Die Versorgung dieser Patientengruppe verschlingt bis zu neun Prozent der Gesamtausgaben des Gesundheitssystems!
Und es leben nicht nur viele Betroffenen im „Verborgenen“, da diese Krankheit noch immer ein Tabuthema ist, sondern auch die Gesundheitspolitik in allen Instanzen tut so, als würde dieses Problem gar nicht existieren. Warum die Gesundheitspolitik sich dieses Problems nicht bewusst ist, scheint bei den seit Langem evidenten, dramatischen Zahlen geradezu skandalträchtig. Vor allem, da sie vorgibt, eine Mehrklassenmedizin doch so dringend verhindern zu müssen und angeblich kostenbewusst zu sein.
Spezialeinrichtungen fehlen
Die Zahl der unrühmlichen Fakten im Zusammenhang mit dem DFS geht aber weiter. Die Versorgungssituation ist prekär. Die Behandlung des DFS erfolgt mehr oder weniger im Verborgenen. Das lässt sich schon daran erkennen, dass ein Netz von multidisziplinären Spezialambulanzen fehlt. Eine Ausnahme bildet die Steiermark mit ihren fünf diabetischen Fuß-Ambulanzen. Ebenfalls „symptomatisch“ ist, dass etwa seitens der ÖDG (Österreichische Diabetes Gesellschaft) das DFS in ihren Leitlinien nur kurz erwähnt wird. Fern der Patientenrealität steht dort zu lesen: „Patienten mit manifestem diabetischen Fußsyndrom sollten in spezialisierten Einrichtungen (Fußambulanzen) vorgestellt bzw. behandelt werden.“ Nur existieren diese „Spezialeinrichtungen“ gar nicht. Die ÖDG freut sich aktuell in ihrer Bilanz anlässlich der letzten Tagung im Juni lieber über „Neue Blutzucker-Grenzwerte zur Früherkennung von Diabetes“. Vielleicht ist das Thema hierzulande einfach von zu untergeordneter akademischer Attraktivität und Eleganz. Im krassen Gegensatz dazu verfügt die Deutsche Diabetes-Gesellschaft über eine eigene Leitlinie und Arbeitsgruppe „Diabetischer Fuß“ auf www.awmf.org.
Niedergelassene = Alleingelassene
Seitens der Sozialversicherer werden zeitintensive Wundbehandlungen durch niedergelassene Ärzte absolut nicht aufwandskonform honoriert. Im Vergleich dazu gibt es in Deutschland gezieltes Disease-Management mit spezialisierten Diabetesschwerpunktpraxen, die sich unter anderem speziell mit der Wundthematik beschäftigen.
Gesundheitsökonomisch empfehlenswert wäre es wohl, hier entsprechend Prävention zu betreiben. Das Optimum bei bestehender PNP wären eine professionelle Fußpflege, regelmäßige Kontrollen des Fußes durch Patient und Arzt sowie geeignetes Schuhwerk. Und hier beginnt das nächste Versorgungsdesaster. Es gäbe zwar geeignete Schuhe mit entsprechender Ausstattung – das heißt Weichbettungseinlagen –, aber sie werden kassenseitig vielfach nicht zur Gänze bezahlt. In der Akutversorgung eines Fußulcus wäre die totale Ruhigstellung zum Beispiel mit einem Gips die Methode der Wahl – eine gleichermaßen effiziente wie zeitaufwendige Methode. Weiters stehen industriell gefertigte Entlastungsschuhe als Alternative zur Verfügung, wobei auch hier nur der Vorfußentlastungschuh von der Sozialversicherung refundiert wird und dieser leider gerade für ältere Patienten durch die PNP-bedingte Gangunsicherheit völlig ungeeignet ist. Summa summarum findet sich in der Präventiv-Versorgung seitens der Sozialversicherer eine Alibisituation, der man jegliche Problemkompetenz weitgehend absprechen kann. Einerseits, weil sie unzureichend und häufig die falschen Hilfsmittel stützt und andererseits, weil man dort offenbar nicht begriffen hat, dass die Prävention vergleichsweise günstig gegenüber der Therapie mit ihren Umfeld- und Folgekosten wäre.
Geheimtipp: AWA
Die Betroffenen selbst bemühen sich in ihrem Verband „Diabetes Austria“ redlich, aber weniger in Richtung öffentlichen Problembewusstseins als eher in einer sehr guten internen Informationspolitik für Betroffene. Wer Hilfe benötigt, findet sie an den unterschiedlichsten Stellen – aber eher zufällig oder als eine Art Geheimtipp, denn Orientierungshilfen gibt es keine. Selbst auf der Website der AWA – Österreichische Gesellschaft für Wundbehandlung – sucht man als Betroffener vergeblich eine Liste kompetenter Ärzte, Wundmanager oder spezialisierter Ambulanzen. Es gibt zwar in Kooperation mit der Ärztekammer postpromotionelle Ausbildungskurse in Sachen ärztliches Wundmanagement, aber wer die tatsächlich absolviert hat, liegt im Dunkeln. Es gibt „zertifizierte Wundmanager“, die mehrheitlich von privaten Vereinen ausgebildet werden. Wer aber die Qualität dieser selbsternannten Expertenforen kontrolliert, liegt ebenfalls im Dunkeln. Inmitten dieser unglücklichen Komposition aus Ignoranz und Strukturmangel finden sich dann die Betroffenen, die vielfach eine jahrelange Odyssee durchlaufen, ehe sie an eine kompetente Stelle gelangen, die – ausreichend ausgebildet und erfahren – Linderung und Hilfe bringt. In Sachen DFS kompetent zu sein, ist jedoch nicht selbstverständlich, denn seine Behandlung ist nicht einfach. Aufgrund der komplexen Problematik ist die Erstellung der immer wieder geforderten „therapeutischen Kochrezepte“ bis dato nicht gelungen und auch nicht zu erwarten. Wie unterschiedlich das „Gesicht“ des DFS sein kann, zeigt die Stadieneinteilung nach Wagner:
0 = Risikofuß, keine offene Läsion
I = oberflächliche Läsion
II = Ulcus bis zur Gelenkskapsel, Sehnen oder Knochen
III = Ulcus mit Abszess, Osteomyelitis, Infektion der Gelenkskapsel
IV = begrenzte Vorfuß- oder Fersennekrose
V = Nekrose des gesamten Fußes
Begleitet wird die PNP von einer PAVK (periphere arterielle Verschlusskrankheit) mit Minderdurchblutung der betroffenen Region, häufigen Infektionen und Fußdeformitäten. Mit den fortgeschrittenen Stadien wird die Diagnostik entsprechend aufwendiger, da die Gefäßsituation und eine fragliche diabetische Neuroosteoarthropathie abgeklärt werden sollten, was zugunsten einer Amputation oftmals unterbleibt. Bei älteren PatientInnen kann auch die Ernährungssituation im Sinne einer Mangelernährung eine Rolle spielen. Es liegt hier also eine deutlich komplexere Situation vor als jene der „nur Wundbehandlung“, die Beachtliches an vernetztem Denken erfordert, wenngleich in der Wunde die scheinbar offensichtliche Herausforderung liegt.
Herausfordernde Wundbehandlung
In der Wundbehandlung gibt es natürlich eine Reihe von grundsätzlichen Standards, die es lohnen, eingehalten zu werden:
- Debridement avitaler Gewebeanteile
- Taschenbildungen & Unterminierungen entfernen
- Wundoberfläche bei jedem Verbandswechsel reinigen
- Auswahl der Wundauflage individuell nach
- Wundheilungsstadium
- Exsudatmenge
- +/- Infektionszeichen
- Heilungsverlauf
- Kosten/Nutzen-Kriterien
- Keine antibiotische Abschirmung oder Lokaltherapie
- Antibiotika systemisch bei moderater und schwerer Infektion
- Plastisch-rekonstruktive Intervention, wenn konservativ kein Erfolg
Das Exsudat stellt dabei eine gesonderte Herausforderung dar, da seine Beurteilung nicht immer einfach ist. In der Versorgung stehen in diesem Fall absorbierende Wundauflagen im Vordergrund. Der in diesem Zusammenhang immer wieder angepriesene „schmerzfreie Verbandswechsel“ spielt beim diabetischen Fuß aber keine Rolle, denn die PNP entbindet von jeder Schmerzempfindung. Die Vorteile dieser speziellen Wundauflagen liegen im hohen Tragekomfort dieses silikonbeschichteten Schaumverbandes. Einerseits wird Exsudat effektiv absorbiert, andererseits das notwendige feuchte Wundmilieu aufrechterhalten. Diese Auflagen werden je nach benötigter Größe individuell zugeschnitten, mit einem Fixierverband stabilisiert und können im Einzelfall mehrere Tage belassen werden. Sie finden auch Anwendung bei Druckgeschwüren und traumatischen Wunden wie Hautrissen oder sekundär heilenden Wunden.
Die Neuentwicklung hoch qualitativer Wundauflagen unterliegt einer besonders hohen Dynamik. Es lohnt sich aber, immer sofort nachzufragen, wie die konkrete Studienlage zu den einzelnen Produkten aussieht, um a priori behauptete von belegbaren Vorteilen schon im Vorfeld zu separieren. ws
Alarmierende Fakten
- Alle 30 Sekunden verliert weltweit ein Diabetiker ein Bein.
- Die Betroffenen werden immer jünger.
- Ihre Zahl steigt weiter an.
- Von den 560.000 Typ-II-Diabetikern in Österreich erleiden mindestens 25 % einmal eine diabetische Fußkomplikation.
- 75 % der Amputationspatienten sind Diabetiker.
- Laut ÖSTAT hat alleine von 2002 bis 2006 die Zahl der Majoramputationen um 10 % zugenommen – in Zahlen rund 2.600.
- Jenseits des 70. Lebensjahres sind bis zu 77 % dieser Patienten pflegebedürftig.
- Innerhalb von 4 Jahren folgt bei 50 % der Betroffenen das zweite Bein.
- Die perioperative Sterblichkeit liegt bei bis zu 25 %.
- Nach 5 Jahren sind nur noch 27 % der betroffenen Patienten am Leben …