Kinder sind keine kleinen Erwachsenen
Die Kinderrehabilitation war bis vor wenigen Jahren ein Stiefkind der österreichischen rehabilitativen Medizin.
Im Gegensatz zum Rehabilitationsbereich der Erwachsenen, der sich über Jahrzehnte im gesamten österreichischen Bundesgebiet vorbildhaft entwickelt hat, ist und war die Rehabilitation für Kinder und Jugendliche ein Stiefkind dieses Prozesses. Im Rahmen der Kindergesundheitsstrategie 2011 des Bundesministeriums für Gesundheit auf Initiative von BM Alois Stöger stellte die Entwicklung der Kinderrehabilitation einen wichtigen Bestandteil dar. Die Klinik Judendorf-Straßengel betreibt als eigenständige Abteilung die größte Abteilung für Kinder und Jugendliche in Österreich neben den Erwachsenenabteilungen für Neurologie und Orthopädie.
Geringere Nachfrage
Die Ursache dieser etwas zögerlichen Entwicklung ist sicherlich nicht einfach zu eruieren und hat eine vielfältige Genese. Eine der Ursachen ist zweifelsohne, dass im Gegensatz zum Erwachsenenbereich die Anzahl der Kinder, welche rehabilitative Maßnahmen benötigen, erfreulicherweise deutlich geringer ist. Eine weitere Ursache ist auch dahingehend zu suchen, dass eine überdurchschnittlich hohe Anzahl von Kindern und Jugendlichen chronische angeborene beziehungsweise hereditäre Handicaps haben, die nicht in das klassische Verständnis der Rehabilitation fallen, denn: Die Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen unterscheidet sich grundlegend von der Rehabilitation Erwachsener. Bei Kindern kommt neben der klassischen Aufgabe der Wiederherstellung von Funktionen nach Erkrankungen auch das erstmalige Erlernen von Funktionen dazu. Dieses erstmalige Erlernen von Funktionen ist speziell im Formenkreis der neurologischen Krankheitsbilder typisch. Neben der Diagnose- und Handicap-abhängigen Therapieplanung ist auch der Entwicklungstand des Kindes bzw. Jugendlichen zu beachten. Selbsterklärend ist zum Beispiel der Unterschied der therapeutischen Notwendigkeiten zwischen einem Säugling, einem Kleinkind und einem Jugendlichen.
Passendes Umfeld
Die wesentlichen Indikationsbereiche sind Neurologie, Neurotraumatologie, Neuroorthopädie, Orthopädie, Rheumatologie, Onkologie, Kardiologie und die Traumatologie bis hin zu Ertrinkungsfolgen. Nicht genannt wurde aufgrund der dynamischen Entwicklungen der Bereich der psychiatrischen Rehabilitation im Kinder- und Jugendbereich. Neben der ärztlichen und pflegerischen Versorgung ist auch auf eine kindergerechte Ausstattung der baulichen Gegebenheiten wie etwa das Vorhandensein von Mutter-Kind-Zimmern zu achten, wobei auch die Möglichkeit der Mitaufnahme von Begleitkindern gegeben sein muss. Neben der räumlichen Komponente sind auch kindergerechte Outdoor-Infrastrukturelemente wie etwa ein Kinderspielplatz vorzusehen. Für den Spezialbereich der onkologischen Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen sind die Möglichkeiten der familienorientierten Rehabilitation vorzusehen, die bisher für die österreichischen Kinder und deren Familien in Deutschland durchgeführt wurde.
Schule und Pädagogik
Die Schule in der Rehabilitation ist neben den medizinischen therapeutischen Maßnahmen ein entscheidender Erfolgs- und Qualitätsgarant. Die oft über Wochen gehenden Aufenthalte der Kinder erfordern spezielle pädagogische Erfordernisse, so unter anderem die vollkommene Integration der Pädagogik in den therapeutischen Ablauf auch im Sinne der interdisziplinären Zusammenarbeit. Nur dadurch kann der optimale Austausch zwischen der Stammschule und der Heilstättenschule in beiden Richtungen gewährleistet werden und somit die Reintegration nach einem Rehabilitationsaufenthalt optimiert werden. Besonders wichtig ist, dass neben den Grundschulstufen auch die Möglichkeit von Oberstufenschulen angeboten wird. Die Betreuung von Begleitpersonen oder der gesamten Familie ist ebenfalls ein substanzieller Bestandteil in der Rehabilitation. Die Belastungsmomente für betreuende Angehörige im Umfeld chronischer Erkrankungen sind enorm und bewegen sich häufig im Bereich des Burnout-Syndroms, führen aber auch zu körperlichen Schäden durch pflegerische Maßnahmen im Alltagsleben. Bei der Rehabilitation nach Akuterkrankungen stellen sich mehrere Belastungsebenen: die Belastung der Akuterkrankung, die eventuell bestehende Akzeptanz einer bleibenden Behinderung eines vorher gesunden Kindes und die damit verbundene Änderung der gesamten Lebenssituation. Diese Belastungssituationen erfordern den massiven Einsatz von speziell geschulten Psychologen, aber auch Pflegemitarbeitern.
Therapeutische Abläufe
Durch eine inter- und intradisziplinäre und fachärztlich geführte Therapiekoordination lassen sich die erarbeiteten Therapieziele in hohem Ausmaß erreichen. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn eine weitgehend individuelle und einzeltherapeutische Struktur gegeben ist, denn primär sollte nicht die Akzeptanz des Handicaps, sondern die Verbesserung das Ziel sein. Ein spezielles und häufig über die Zeiträume des Erwachsenenbereichs hinausgehendes Problem ist die Aufenthaltsdauer, wobei speziell neurologische, neurotraumatologische sowie neuroorthopädische Krankheitsbilder mitunter mehrwöchige bis mehrmonatige Aufenthalte benötigen. Diese Problematik ist sicherlich eine massive Belastung für die Kinder und Jugendlichen, aber auch für deren Begleitpersonen.
Was braucht eine gut funktionierende Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen?
- Speziell geschulte Fachärzte und Ärzte
- Speziell geschulte Pflegemitarbeiter
- Physiotherapie
- Ergotherapie
- Logopädie
- Psychologie
- Technologisch unterstützende therapeutische Maßnahmen wie Lokomat, Kinderlokomat, Laufbandtherapie und/oder Möglichkeiten des Einsatzes des Handroboters Amadeo
- Medizinische Trainingstherapie
- Physikalisch-therapeutische Maßnahmen wie zum Beispiel Massagen, Elektrotherapie, Ultraschall
- Unterwassertherapie
- Spezialisierte Experten aus dem Gebiet der Orthopädie und Rehatechnik
- Sozialarbeit
„AUCH ICH WILL GEHEN“
Der „Verein zur Erforschung und Förderung von Kindern mit angeborenen oder erworbenen Bewegungsstörungen“ der Klinik Judendorf-Strassengel fördert betroffene Kinder und Jugendliche mit angeborenen oder erworbenen Bewegungsstörungen.
www.auch-ich-will-gehen.at
Autor:
Prim. Prof. Dr. Peter Grieshofer
Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Neuropädiatrie, Ärztlicher Direktor der Mare-Kliniken und Mare-Kurhotels
peter.grieshoferklinik-judendorf.at