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Kein Joint auf Rezept?

Die Schmerzspezialisten in Österreich wollen den Zugang zu bereits gut erforschten und wirksamen Cannabinoid-Medikamenten erleichtern, haben jedoch Bedenken, Cannabisblüten und -extrakt für medizinische Zwecke generell zu legalisieren. Deutschland hat bereits die Grundlagen für eine erweiterte Zulassung geschaffen.


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Prim. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar, Generalsekretär der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG) und Leiter der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin am Klinikum Klagenfurt. Foto: B&K Nicholas Bettschart

Die wichtigsten Schritte sind gesetzt, um Cannabis in Deutschland ab 2017 auf Rezept verfügbar zu machen. Der Gesetzesentwurf des Gesundheitsministers hat das Kabinett passiert.
Jahrelange Diskussionen gingen auch bei unseren Nachbarn dem nunmehrigen Beschluss voraus: Nun brachte Gesundheitsminister Hermann Gröhe den entsprechenden Gesetzesentwurf auf den Weg, um Cannabis auf Rezept Schmerzpatienten künftig über die Apotheken verfügbar zu machen. Der CDU-Politiker Gröhe meinte dazu: „Wir wollen, dass für Schwerkranke die Kosten für Cannabis als Medizin von ihrer Krankenkasse übernommen werden, wenn ihnen nicht anders geholfen werden kann.“ Ein Zugang, der auch heimischen Schmerzspezialisten bekannt sein dürfte. Hierzulande ist die Diskussion jedoch noch nicht so weit gediehen.

Detaillierte Auflagen

Einer totalen Freigabe von Cannabis kommt der Gesetzesentwurf allerdings ohnehin nicht gleich. Nur Patienten ohne therapeutische Alternative sollen getrocknete Cannabisblüten und -extrakt erhalten. Die Initialzündung für die aktuelle Diskussion, die nunmehr in den Gesetzesenwturf mündete, gab der Fall eines unheilbar kranken Mannes, dem das deutsche Bundesverwaltungsgericht im April dieses Jahres erstmals und ausnahmsweise den Eigenanbau von Cannabis zur Selbsttherapie gestattete. Mit dem Urteil wurde das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte verpflichtet, dem an Multipler Sklerose Erkrankten eine Ausnahmeerlaubnis zum Cannabisanbau zu erteilen. Für den Anbau gelten strenge Regeln, die vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte als staatliche Cannabisagentur überwacht werden sollen. Der Anbau von Cannabis wird zwar ermöglicht, doch verkauft wird das medizinische Cannabis an Hersteller von Cannabis-Arzneimitteln, Großhändler und Apotheken durch die Agentur. Solange der Anbau in Deutschland noch keine „Früchte“ trägt, wird der Bedarf mit Importen gedeckt.

Erstattung mit Bedingungen

„Wir wollen, dass für Schwerkranke die Kosten für Cannabis als Medizin von ihrer Krankenkasse übernommen werden, wenn ihnen nicht anders geholfen werden kann“, sagte Gesundheitsminister Gröhe in einem Interview in der „Welt“. Bisher haben in Deutschland rund 650 Patienten eine Ausnahmeerlaubnis für Cannabisblüten und -extrakte aus der Apotheke. Die Erstattung, die nun generell möglich werden soll, soll aber an wissenschaftliche Begleitstudien geknüpft werden. Eine generelle Cannabisfreigabe lehnt auch die Regierung ab. „Cannabis ist keine harmlose Substanz. Daher darf es auch keine Legalisierung zum reinen Privatvergnügen geben“, sagte dazu Bundesdrogenbeauftragte Marlene Mortler.

Mehr Skepsis als Wohlwollen?

Im Rahmen des Pressegesprächs zur Jahrestagung der Österreichischen Schmerzgesellschaft im Mai in Velden am Wörthersee gingen naturgemäß die Wogen hoch, angesichts der aktuellen Debatten in Deutschland. Österreichische Schmerzexperten sind von der deutschen Strategie nur bedingt angetan und planen vorerst keine Kopie der rechtlichen Grundlagen. „Wir brauchen keine Legalisierung von Haschisch oder Marihuana“, vermeldete Prim. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar, Generalsekretär der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG) und Leiter der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin am Klinikum Klagenfurt. Die ÖSG-Jahrestagung, der wichtigste österreichische Schmerzkongress, beschäftigte sich dieses Jahr unter anderem mit dem medizinischen Potenzial von Cannabis. „Uns stehen bereits jetzt wirksame und standardisierte Cannabinoid-Medikamente zur Verfügung, deren Wirksamkeit in einigen Indikationen gut belegt ist“, ergänzte Likar.
Der medizinisch indizierte Einsatz von Cannabis ist auch hierzulande kein Novum. Mehrere Cannabinoid-Präparate sind für die therapeutische Anwendung verfügbar: Dronabinol als magistrale Zubereitungen von pflanzlichem oder synthetisch hergestelltem delta-9-THC, das synthetische Cannabinoid Nabilone sowie Sativex, das standardisierte Extrakte der Cannabis-Pflanze mit definiertem Gehalt an THC und CBD enthält. Außerdem sind neue Cannabidiol-Zubereitungen auf dem Markt.
„Das sind alles Produkte, die ihre Wirksamkeit und arzneimitteltechnische Sicherheit bereits bewiesen haben“, erklärte Likar. Für den Konsum der Pflanze gelten jedoch mikrobielle und chemische Verunreinigungen als potenzielle Probleme. Zudem würde der „Joint auf Rezept“ keine genaue Dosierung der medizinisch wirksamen Komponenten erlauben und sei mit den gesundheitlichen Gefahren des Tabakrauchens verbunden. „Es gibt auch keinen Beweis dafür, dass die medizinische Wirkung von Cannabis oder Marihuana besser wäre als die bereits verfügbaren therapeutischen Cannabinoid-Reinsubstanzen“, warnt Likar.

Erfolg versprechende Studien

Auch in Deutschland sind zahlreiche Schmerzexperten noch nicht überzeugt, dass die Studienlage für die Zulassung von Hanfprodukten ausreicht. Sie räumen freilich ein, dass in den letzten Jahren einige Studienergebnisse und Behandlungserfahrungen viel Potenzial versprechen. Das Wirkungsspektrum von Cannabinoiden konnte in mehreren Untersuchungen nachgewiesen werden und überraschte durchaus in seiner Dimension. „Gut belegt sind vor allem brechreizhemmende, appetitsteigernde und krampflösende Effekte“, erklärte Schmerztherapeut Likar. „Zudem lindern Cannabinoide Angst, verbessern die Lebensqualität und können in multimodale Behandlungskonzepte gut integriert werden.“
Vor allem in der Therapie von Tumor- und HIV-Patienten werden THC-haltige Arzneimittel seit Jahren eingesetzt. Mittlerweile stellte sich jedoch heraus, dass das Anwendungsspektrum möglicherweise wesentlich breiter ist als gedacht. Erst kürzlich belegte eine italienische Studie, dass Cannabis-Medikamente künftig auch in der Behandlung von neuropathischen Schmerzen eine Rolle spielen könnten. Schon länger ist bekannt und belegt, dass THC auch bei Multipler Sklerose, dem Querschnittssyndrom oder anderen spastischen Schmerzen wirkt. Darüber hinaus gibt es vielversprechende Hinweise auf ein Potenzial dieser Arzneimittel in der Behandlung verschiedener chronisch-entzündlicher Erkrankungen, wie Rheumatoider Arthritis oder chronisch-entzündlicher Darmerkrankungen. „Besonders synergetisch ist die Kombination mit einer Opioid-Therapie“, bestätigt Likar das große Potenzial. „Anders als Opioide führen Cannabinoide auch bei Überdosierung zu keiner potenziell lebensgefährlichen Atemdepression und auch zu keiner Unterdrückung der wichtigen Abwehrfunktion gegen infektiöse Keime.”

Fragliche Kostendeckung

Die Entscheidung der deutschen Bundesregierung hat die Debatte um legales Cannabis in der Medizin neu entfacht. Likar wünscht sich in der daraus entstanden Diskussion rund um die Legalisierung mehr Sachlichkeit. „Die gegenwärtige Diskussion darf keine ungünstigen Auswirkungen auf den Einsatz von Cannabinoid-Medikamenten in der Schmerz- und Palliativmedizin haben“, fordert Likar. „Angesichts des gut belegten Nutzens sollten diese Substanzen möglichst vielen Patienten, die davon profitieren könnten, zugänglich gemacht werden. Dazu müssen nicht nur gelegentlich noch vorhandene Vorurteile gegenüber Cannabinoid-Medikamenten abgebaut werden, sondern auch bürokratische Hürden.“ Nach dem aktuellen Stand der Dinge werden in Österreich zugelassene Präparate nur in wenigen, restriktiv selektierten Fällen von den Krankenkassen erstattet. Erforderlich ist jedenfalls eine chefärztliche Genehmigung. „Wünschenswert“, so Likar abschließend, „wäre eine Vereinfachung der Erstattung durch die Krankenkassen und dass zur Verschreibung kein Suchtgiftrezept mehr erforderlich ist.“ bw

Cannabinoide

[von latein. cannabis = Hanf], Dibenzopyrane, E cannabinoids, Sammelbezeichnung für die aus dem Indischen Hanf, Cannabis sativa subsp. indica (Haschisch, Marihuana), isolierten Inhaltsstoffe und deren synthetische Derivate mit gemeinsamem Grundgerüst.
Die wichtigsten der 60 bisher in Extrakten der Cannabispflanze gefundenen Cannabinoide sind: 1) Δ9-Tetrahydrocannabinol (THC;), das aus Cannabidiolcarbonsäure (CBDS) entsteht, halluzinogen (Halluzinogene) wirksam ist und das psychotrope Prinzip des Haschischs darstellt. THC bindet im Körper an einen Cannabinoidrezeptor (CB1), der an vielen schmerzverarbeitenden Stellen im Gehirn, aber auch auf Immunzellen zu finden ist. Die Rezeptoren scheinen unter anderem die Funktion von Ionenkanälen und die Freisetzung von Neurotransmittern zu beeinflussen; die genauen Wirkprinzipien sind noch nicht geklärt. Körpereigene Substanzen, die an diesen Rezeptor binden (z. B. Anandamid), bilden ein sogenanntes Cannabinoid-System, das vermutlich an der Bewegungskoordination, dem Kurzzeitgedächtnis und an der Regulation des Immunsystems beteiligt ist. Über diesen Rezeptor scheint auch THC weitreichende, vor allem schwächende, Auswirkungen auf das Immunsystem zu haben. THC beeinflusst außerdem das fein abgestimmte System der Cytokine. THC wirkt daneben schädigend auf das Gehirn und wird im menschlichen Körper relativ langsam abgebaut bzw. ausgeschieden. 2) Cannabidiol (CBD), das psychomimetisch inaktiv ist, jedoch antibiotisch, als Antiepileptikum und als Hypnotikum wirkt; CBD entsteht ebenfalls über CBDS. 3) Cannabinol (CBN), das aufgrund seiner Aromatisierung psychotrop unwirksam ist.

Aus: Täschner, K.L.: Das Cannabis-Problem. Haschisch und seine Wirkungen. Köln 31986. Nahas, G.G.: Cannabis Physiopathology Epidemiology Detection. Boca Raton 1992.
Quelle: Lexikon der Neurowissenschaften, www.spektrum.de

Potenzielle Anwendungsbereiche der Cannabinoide

  • Analgesie
  • Antiemese
  • Appetitstimulation
  • Antispastische Effekte
  • Neuroprotektion
  • Senkung des Augendrucks
  • Antiinflammatorische Wirkung
  • Tumorsuppression
  • Antioxidative Wirkung
  • Immunmodulation
  • Sexuelle Dysfunktion
  • Psychiatrische Indikationen
  • Modulation des vaskulären Systems

Häufigste aktuelle Anwendungs-bereiche der Cannabinoide

  • Spastik, z. B. bei Multipler Sklerose
  • Anorexie und Kachexie, z. B. bei HIV/Aids
  • Nausea und Emesis, z. B. im Rahmen einer krebsbedingten Chemotherapie
  • chronische Schmerzen, z. B. bei HIV/Aids, Palliativmedizin oder Krebs
  • Stimmungsaufhellung

Potenzielle Nebenwirkungen der Cannabinoide

Schwindel, Gedächtnisverlust, Einschränkung der psychomotorischen und kognitiven Leistungsfähigkeit, Dysphorie, Störung der Zeitwahrnehmung, Angst/Panik, Müdigkeit, Tachykardie, orthostatische Hypotension, Mundtrockenheit, reduzierter Tränenfluss, Muskelrelaxation, Steigerung des Appetits

Cannabis als Droge – Statement des deutschen Bundesministeriums für Gesundheit

Beim Konsum illegaler Drogen spielt Cannabis die Hauptrolle. Gemäß der Drogenaffinitätsstudie 2015 der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist der Anteil Jugendlicher im Alter von 12 bis 17 Jahren, die in den letzten zwölf Monaten vor der Befragung Cannabis konsumiert haben, von 4,6 % im Jahr 2011 auf 6,6 % im Jahr 2015 angestiegen. Bei den jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 25 Jahren zeigt sich seit 2008 ein Wiederanstieg der 12-Monats-Prävalenz. Bezogen auf alle jungen Erwachsenen betrug diese im Jahr 2015 16,3 % – im Jahr 2010 waren es noch 12,7 %. Während es bei der Mehrzahl der Konsumenten beim Probierkonsum bleibt, stellen die regelmäßigen und häufigen Cannabiskonsumenten die eigentliche Risikogruppe dar. Im Jahr 2015 berichteten etwa ein Prozent der 12- bis 17-jährigen Jugendlichen und rund vier Prozent der 18- bis 25-jährigen Erwachsenen, in den letzten zwölf Monaten häufiger als zehnmal Cannabis konsumiert zu haben.
Nach dem Epidemiologischen Suchtsurvey von 2012 konsumierten 4,5 % aller Erwachsenen im Alter von 18 bis 64 Jahren in den letzten 12 Monaten mindestens einmal Cannabis; das sind rund 2,9 Millionen Personen. Schätzungen zufolge erfüllen etwa 0,5 % der Bevölkerung im Alter zwischen 18 und 64 Jahre die Kriterien für eine Cannabisabhängigkeit.
Quelle: www.bmg.bund.de, 04.05. 2016