< vorhergehender Beitrag

Im Kampf gegen die Verwandlungskünstler

Die Pharmaindustrie produziert auf Grundlage einer WHO-Prognose bereits emsig den Grippeimpfstoff für die auch heuer wieder mit Sicherheit auf uns zurollende Influenzawelle. Die Treffsicherheit der Prognose entscheidet über die Wirksamkeit der Impfungen. Um Viren-Mutationen zukünftig besser abdecken zu können, arbeiten Wissenschaftler weltweit an neuen Impfstoffen, auch in Österreich.


Winterzeit ist Grippezeit. In Österreich erkranken in einer durchschnittlichen Influenzasaison 350.000 Menschen an saisonaler Grippe, 1.500 sterben an ihren Folgen oder Nebenwirkungen. Die jährliche Grippewelle schwankt aber stark hinsichtlich ihrer Ausbreitung und Schwere. Außerdem haben Influenza-A-Viren die besondere Fähigkeit, die Eiweißstrukturen Hämagglutinin (H) und Neuraminidase (N) auf ihrer Oberfläche laufend zu verändern. Aufgrund dieser ständigen Mutationen unterscheiden sich die Stämme jedes Jahr mehr oder weniger ausgeprägt voneinander und können so vom Immunsystem des Menschen bei einer erneuten Infektion nicht wiedererkannt werden. Die WHO prognostiziert bereits jeweils im Frühjahr die wahrscheinliche Zusammensetzung der nächsten Grippewelle und bedient sich dabei der Erfahrungswerte, die aktuell im Winter der südlichen Halbkugel gesammelt wurden. Aufgrund ihrer ständigen Mutationen bleibt es am Ende aber doch eher eine „Wettervorhersage“, wie sich die Viren tatsächlich zusammensetzen werden. „Wie sehr die tatsächlichen Viren kommenden Winter von den prognostizierten abweichen werden, kann zum heutigen Zeitpunkt nicht seriös beantwortet werden“, bestätigt auch Prof. Dr. Christoph Steininger von der klinischen Abteilung für Infektionen und Tropenmedizin an der Universitätsklinik Wien.
Damit bleibt aber auch die Wirksamkeit der vorbeugenden Grippeimpfung ungewiss, weil deren Zusammensetzung im Wesentlichen auf genau dieser Prognose beruht. Der Impfstoff 2011/2012 wird sich – wie im letzten Jahr – aus drei Subgruppen zusammensetzen: zwei Influenza A-Stämmen (H1N1 und H3N2) sowie einem B-Stamm.
Steininger beschäftigt sich seit vielen Jahren mit neuen Ansätzen zur Prävention und Therapie der Influenza-Infektion. Die aktuelle Situation der weltweiten Influenza-Forschung beschreibt der Experte so: „Nach der Explosion an Wissen, die es im Zuge der Schweinegrippe gegeben hat, ist das Tempo wieder etwas zurückgenommen worden.“ Zuletzt habe sich die internationale Community intensiv mit der ausgebliebenen Pandemie 2009 beschäftigt sowie mit der Weiterentwicklung der Vorhersagemodelle.

Ärzte-Durchimpfungsrate erhöhen

Trotz aller Unsicherheitsfaktoren plädiert Steininger für eine möglichst flächendeckende Schutzimpfung als bestmögliche Präventionsmaßnahme und nimmt dabei vor allem seine Kollegen in die Pflicht. Die Durchimpfungsrate sei mit 19 Prozent insgesamt schon gering, bei den Ärzten lag sie im Vorjahr bei „beschämenden“ 10 Prozent. „Ich weiß aus der Praxis, wie schwierig es ist, Kollegen zum Impfen zu motivieren. Dabei stellen Ärzte ein unnötig erhöhtes Risiko dar, um die Krankheit an ihre Patienten weiterzugeben“, sagt Steininger und verweist auf einschlägige Studien als Beleg für seine Überzeugung.

Allzweckwaffe F16?

Beinahe jedes Jahr tauchen neue Grippeerreger auf. Weil sie sich jedoch ständig verändern, müssen immer neue Impfstoffe gegen sie entwickelt werden. Und was in diesem Jahr vor der Grippe schützt, kann im nächsten Herbst schon weniger wirken oder völlig nutzlos sein. Vordringliches Ziel der Wissenschaftler ist es daher, neue Substanzen zu entdecken, die flexibler vor Mutationen schützen können, indem sie einen breiteren Wirkungsbereich abdecken. Eine positive Entwicklung in diese Richtung könnte ein aktuelles europäisches Forschungsprojekt liefern, dessen vielversprechende Zwischenergebnisse erst unlängst große Hoffnungen bei Medizinern und Fachmedien hervorgerufen haben.
Laut einem aktuellen Bericht des Fachjournals „Science“ haben Forscher aus der Schweiz, Großbritannien und den Niederlanden eine Substanz gefunden, die gegen verschiedene Grippeviren wirkt. Der extrem selten vorkommende Antikörper F16 konnte dank eines neuartigen Verfahrens bei einem Influenza-Patienten – und damit erstmals bei einem Menschen – identifiziert werden. Seine hohe Wirksamkeit gegenüber beiden großen Influenza A-Stämmen führen die Wissenschaftler auf die besondere Struktur an der Virusbindungsstelle zurück. Der Antikörper bindet sich an eine Stelle der Grippeviren, die sich nur wenig verändert und macht die Erreger unschädlich.
Steiniger kann die aufkeimende Hoffnung auf einen Entwicklungsschub durchaus nachvollziehen und spricht von einer „spannenden und interessanten Geschichte, die von den Kollegen sehr enthusiastisch aufgenommen wurde“. Gleichzeitig versucht der Mediziner aber, vorschnelle Hoffnungen auf ein Allheilmittel zu dämpfen: „Was die baldige Umsetzbarkeit der Ergebnisse in die Praxis anbelangt, bin ich schon noch sehr skeptisch.“ Man hat jetzt zwar offenbar den Schlüssel gefunden, aber noch nicht das passende Schloss dazu. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.“
Was Steiniger damit meint: Man hat mit F16 einen offensichtlich wirksamen Antikörper gefunden. Für einen fertigen Impfstoff bedarf es des exakten Nachbaus des passenden Antiproteins. Zudem bleibe auch noch die Frage zu klären, warum der Antikörper so selten beim Menschen auftritt, wenn er so wirksam ist: „Was hat sich die Natur dabei gedacht, auf diesen wertvollen und effektiven Antikörper zu verzichten“, fragt sich Steininger: „Vielleicht treten Nebenwirkungen auf, die bisher unbekannt sind. Da fehlt es noch an entsprechender Forschungsarbeit.“

Nasale Impfung aus Österreich?

In eine andere Richtung forscht die Wiener AVIR Green Hills Biotechnology AG. Das Biotech-Unternehmen testet gegenwärtig im Zuge von Phase-II-Studien in Wien und Russland eine saisonale Influenza-Impfung über die Nase.
Der Impfstoff-Prototyp mit dem Namen „deltaFLU“ setzt sich aus drei Virusstämmen zusammen und wird in Zellkulturen (Verozellen) produziert. Dem menschlichen Organismus erscheint er wie ein Grippevirus und löst damit eine Immunreaktion gegen verschiedenste Varianten des Influenza-Virus aus. Zu einer Erkrankung kann es dabei laut Dr. Joachim Seipelt, Vice President von AVIR Green Hills, nicht kommen, weil der Pathogenitätsfaktor NS1 zuvor entnommen wurde: „Der Impfstoff ist damit sicher und immunogen für den Menschen. Die sogenannte Kreuzprotektivität ermöglicht zudem einen Schutz gegen entfernt verwandte und bereits veränderte Grippevirenstämme, ein besonderer Vorteil im Hinblick auf die häufigen Virusmutationen.“
Seipelt sieht noch weitere Vorteile von „deltaFLU“: „Durch die Verabreichung über die Nase wird der Impfschutz genau dort stimuliert, wo das Virus in den Körper eindringt.“ Dazu komme der Sicherheitsaspekt – „Bisher sind in sämtlichen klinischen Studien keinerlei Nebenwirkungen aufgetreten“ – sowie ein ökonomisches Argument: „Der Impfstoff wird nicht in Eiern gezüchtet, sondern auf Zellkultursystemen produziert – ein äußerst effektives Verfahren, das zusätzliche Produktionsflexibilität bringt, etwa im Falle einer Pandemiegefahr.“
Auch wenn es bis zur Zulassung des Produktes noch dauern wird – Seipelt: „Vor 2014 sicher nicht, weil noch umfangreiche Phase-III-Studien gemacht werden müssen“ –, führt AVIR Green Hills schon jetzt Verhandlungen mit indischen und chinesischen Partnern über nationale Verwertungsrechte. In diesen Ländern gibt es besonders große Marktpotenziale. In China etwa werden derzeit bei einer Bevölkerung von 1,3 Milliarden Menschen nur rund 40 Millionen Dosen Influenza-Impfstoff pro Jahr verabreicht.
Eine nasale Impfung gegen die Grippe wird in den Vereinigten Staaten schon seit Jahren verabreicht. „FluMist“ ist in den USA aber nicht unumstritten. Manche Ärzte äußerten wiederholt die Besorgnis, dass der Impfstoff für Menschen gefährlich werden könnte, weil er zwar abgeschwächte, aber vermehrungsfähige Viren beinhaltet, die bis zu drei Wochen nach der Impfung von Person zu Person übertragen werden und zu Infektionen führen könnten.
Die Abwägung zwischen Wirkung und Sicherheit sei gerade bei Lebendimpfstoffen eine äußerst heikle Angelegenheit, sieht Prof. Steininger aber auch eine entsprechende Problematik in die Gegenrichtung: „Impfstoffe müssen absolut sicher sein, um eine Zulassung zu erhalten. Impfhersteller tendieren daher verständlicherweise zu sehr sicheren Produkten. Deren Wirksamkeit bleibt dabei dann oft auf der Strecke.“

vw
Foto: bildagentur waldhäusl