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Evidenzbasierte Medizin in der Physikalischen Medizin und allgemeinen Rehabilitation

Eine bisher fehlende Evidenz für einzelne Therapieformen beweist längst nicht deren Unwirksamkeit. Letztendlich entscheidet der behandelnde Arzt, wie er selbst die momentan beste wissenschaftliche Literatur für die individuelle Behandlung seines Patienten wertet.


AUTOR: Prim. Univ.-Prof. DDr. Helmut Kern
Institut für Physikalische Medizin und Rehabilitation
Wilhelminenspital, Montleartstraße 37, 1160 Wien, wil.pys.kern-forschung(at)wienkav.at

In den letzten 20 Jahren wurde der Begriff „Evidenzbasierte Medizin“ (EBM) vermehrt für medizinische und gesundheitspolitische Entscheidungen herangezogen, nicht zuletzt auch um die Wirksamkeit von Therapien zu belegen. Die EBM beruht in ihrer ursprünglichen Definition auf drei Säulen: der „individuellen klinischen Erfahrung des Arztes“, den „Patientenbedürfnissen“ und der besten „externen Evidenz“. Heute wird der Begriff oft fälschlicherweise als Synonym für die „externe Evidenz“ verwendet, ohne die beiden anderen Säulen der EBM zu berücksichtigen.
Nach den Pionieren der EBM Gordon Guyatt und David Sackett, Mitbegründer der ersten internationalen EBM-Arbeitsgruppe („evidence-based medicine working group“), ist Evidenzbasierte Medizin der gewissenhafte und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten „externen Evidenz“ in Kombination mit der individuellen „klinischen Expertise“ des behandelnden Arztes und den „Bedürfnissen des Patienten“ für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung für jeden individuellen Patienten. Mit „externer Evidenz“ sind die besten klinisch relevanten Forschungsergebnisse, speziell von klinischen Patientenstudien, aber auch von der Grundlagenforschung gemeint. Sackett veranschaulichte im BMJ 1996, wie diese drei Säulen der EBM die Wertigkeit der jeweiligen Therapiemethoden bilden und für jeden Patienten individuell zu werten sind.

Beschneidung und Wissensverlust

Ebenso wird kritisiert, dass EBM oft als eine Medizin verstanden wird, die auf Studienergebnissen basiert, die bestimmten methodischen Anforderungen genügen müssen (doppelblind, randomisiert, kontrollierte Studien – RCT), die nicht für alle Fragestellungen geeignet sind und primär für den Bereich der Zulassung neuer Pharmazeutika verwendet wurden. So ist ein doppelblindes Design für viele Fragestellungen der Physikalischen Medizin nicht anwendbar. Die wissenschaftliche Argumentation in der Medizin ausschließlich auf die statistische Beurteilung von RCTs und Metaanalysen einzuengen, beschneidet die Wissenschaft und führt zu Wissensverlust. Trotzdem wird diese Betrachtungsweise der wissenschaftlichen Ergebnisse fast ideologisch verteidigt. Nach Sacketts Meinung liefern RCTs und systematische Übersichtsarbeiten (SR) von RCTs die zuverlässigsten Nachweise, dass Therapien mehr nützen als schaden können. Er weist aber auch darauf hin, dass manche Fragen zu Therapien keine RCTs benötigen.
Eindrucksvoll wird das Missverständnis in der Interpretation, wenn man die EBM-Triade der Florida State University von der Cochrane Website betrachtet, und die Details der drei Säulen differenziert. Für die „externe Evidenz“ nur Studien mit Level eins und zwei heranzuziehen, ist problematisch, da viel Wissen unberücksichtigt bleibt. Dies wird von internationalen Kritikern der EBM immer wieder moniert und kann am besten durch die Zusammenstellung der American Chiropractors Association verdeutlicht werden. Auch die anderen Studientypen sind anzuführen und zu werten und insbesondere Literatur der wissenschaftlichen Grundlagenforschung in international gelisteten Journalen mit Impactpunkten zu berücksichtigen. Das bedeutet jedoch oft eine größere Anstrengung bei der Beurteilung der externen Evidenz, als wenn man die Literatursuche nur auf RCTs und Metaanalysen einschränkt, um dann bei geringerem Aufwand die Ergebnisse als „Evidenz“ oder „keine Evidenz“ zu propagieren. Die Beurteilung der externen Evidenz auf systematische Übersichtsarbeiten und Metaanalysen einzuschränken, ist daher irreführend und unwissenschaftlich.

Literatur statt Arzt?

Häufig wird die Literatursuche auch auf wenige elektronische Datenbanken wie zum Beispiel PubMed®, MEDLINE®, Cochrane Database of Systematic Reviews oder EMBASE und auf die letzten rund 15 bis 20 Jahre eingeschränkt. Literatur, die älter oder nur in Büchern bzw. in älteren Journalen gedruckt wurde oder elektronisch nicht auffindbar ist, und graue Literatur werden dabei oft ignoriert.
Auch sollte man das statistische Signifikanzniveau nicht außer Acht lassen. Die Tatsache, dass es mit großen Untersuchungsgruppen oft möglich ist, ein Ergebnis zu erzielen, das statistisch signifikant ist, aber klinisch bedeutungslos sein mag, sollte ebenfalls berücksichtigt werden. Die physiologische Sinnhaftigkeit und klinische Relevanz der Einzelstudien bzw. Übersichtsarbeiten ist unbedingt zu hinterfragen. Bewertungsagenturen wie das Cochrane Zentrum oder Health Technology Agencies behaupten, durch systematische Analyse der Literatur dieses Problem zu überwinden und daraus die Erkenntnis herauszufiltern, die der „normale“ Arzt nicht gewinnen kann. Ein Beleg für die Effektivität dieses Vorgehens in Bezug auf eine Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung steht allerdings aus. Ausschließlich so die geeignete Therapieformen festzulegen, würde die Arbeit des Arztes abwerten und ad absurdum führen.

Tyrannei der Evidenz

Die genaue Betrachtung von RCTs und Metaanalysen deckt problematische Details auf: El Dib berichtete, dass in 96 % von 1.024 Cochrane Reviews keine endgültige Aussage getroffen wird. Epstein zeigte im BMJ 2007, dass in 124 Metaanalysen zur antihypertensiven Therapie 55 % der analysierten Studien positive Ergebnisse aufweisen, aber in 92 % eine positive Schlussfolgerung gezogen wird. Dies scheint von den Industriesponsoren der Studien abhängig zu sein. Im Übrigen zeigte sich, dass negative Studienergebnisse aus verschiedenen Gründen wesentlich seltener publiziert werden. Gute Ärzte beachten die Patientenbedürfnisse und nutzen sowohl die „individuelle klinische Expertise“ als auch die beste verfügbare „externe Evidenz“, keines von beiden ist für sich alleine ausreichend. Ohne klinische Expertise steigt das Risiko, in der Praxis von der externen Evidenz tyrannisiert zu werden. Selbst eine exzellente externe Evidenz kann für den individuellen Patienten ungeeignet sein.

Medizin ist keine Mathematik

Das nationale Komitee der Chiropraktiker Amerikas hat in einer großen nationalen Leitlinie ausgearbeitet, dass zur Beurteilung der externen Evidenz nicht nur RCTs und Metaanalysen herangezogen werden, sondern auch alle anderen Arten von Studien, insbesondere auch die Ergebnisse der wissenschaftlichen und der klinischen Grundlagenforschung, gewertet werden müssen. Die Einschränkung auf RCTs und Metaanalysen mit Level eins und zwei ist daher genauso kritisch zu sehen, wie manche Einschränkung des Analysezeitraums auf die letzten Jahre. Gerade im Bereich der Physikalischen Medizin und allgemeinen Rehabilitation wurden viele der bewährten Therapiemethoden wie zum Beispiel Massage, Elektrotherapie und Ultraschall durch ältere Veröffentlichungen in Büchern oder als Buchbeiträge publiziert und werden dadurch nicht zur Bewertung herangezogen.
Die biologische Variabilität des Menschen bedingt, dass Ergebnisse selbst aus wissenschaftlich hochwertigen Studien in der Medizin die Wirkung einer Intervention oder Methode nie so präzise wie in der Physik oder Mathematik beschreiben können.Wichert meint, dass auch die Anwendung komplexer mathematischer Methoden nichts an dieser biologischen Variabilität ändert. Die Variabilität der Methodik bzw. der verwendeten Parameter (zum Beispiel Stimulationsparameter, Patientenkollektiv, Compliance, Verblindung) und die biologische Variabilität des Menschen und dessen Umweltfaktoren sind Ursachen dafür, warum im Bereich der Physikalischen Medizin und allgemeinen Rehabilitation nur beschränkt RCTs und Metaanalysen mit der Qualität wie in Medikamentenstudien verfügbar sind.

Wenn Forschungsmittel fehlen

Auch fehlt für die Physikalische Medizin die finanzielle Unterstützung für groß angelegte Studien, im Gegensatz zur Entwicklung von Pharmazeutika, da es keine Unternehmen gibt, die entsprechend hohe Forschungsmittel in diesen Bereich der Medizin investieren. Ein weiterer gravierender Schwachpunkt in der derzeitigen Bewertung physikalischer Behandlungsmethoden ist, dass Studien, die eine Kombination verschiedener Therapien untersuchen, nicht berücksichtigt werden. In der täglichen Praxis werden aber, im Interesse der Patienten, gerade diese Kombinationstherapien angewendet, weil sie besser wirksam sind und sich klinisch bewährt haben. RCTs, in denen nur Monotherapien analysiert werden, lassen keine gültige Aussage über die Behandlungen mit Kombinationstherapien zu und führen daher zu uneinheitlichen Schlussfolgerungen in der Bewertung. Ein weiterer Grund für das Fehlen von Level-eins-Studien ist, dass einige physikalische Therapien wie Massage und Elektrostimulation keine reinen Placebogruppen im Studiendesign zulassen und die doppelte Verblindung äußerst schwierig oder nicht möglich ist.

Arztwissen und Patientenbedürfnisse

Eine fehlende externe Evidenz für einzelne Therapieformen ist nicht der Beweis für deren Unwirksamkeit. Trotzdem ziehen viele Verantwortliche diesen falschen Schluss. Je mehr  Sozialversicherungen und politische Entscheidungsträger die falsch definierte Evidenzbasierte Medizin als Entscheidungskriterium für Therapierichtlinien und für deren ökonomische Bewertung heranziehen, umso fataler sind die Folgen. Die Missachtung der „klinischen Erfahrung des behandelnden Arztes“ und der „Bedürfnisse der Patienten“ als Säulen der EBM sowie der wissenschaftlichen Grundlagenforschung ist unethisch und unwissenschaftlich. Die fälschliche Interpretation des Begriffes EBM kann dazu führen, dass klinisch bewährte Therapien angezweifelt, nicht bewilligt und bewährte Therapieregime den Patienten vorenthalten werden. Von den bewertenden Stellen sollte daher nicht der Fehler gemacht werden, nur die wissenschaftliche „externe Evidenz“ zu werten und nicht wie von Gordon Guyatt und David Sackett gefordert, auch die zweite und dritte Säule der EBM zu berücksichtigen. Letztendlich entscheidet der behandelnde Arzt, wie er die momentan beste wissenschaftliche Literatur für die individuelle Behandlung seines Patienten wertet.

Literatur beim Verfasser: Erstveröffentlichung: European Journal of Translational Myology – Basic Applied Myology 2013; 23 (4): 131-136