Eine Lanze für die Schmerzmedizin
Während in Deutschland Schmerzmedizin als Querschnittsfach fixer Bestandteil der universitären Ausbildung ist, kommt Österreich über ein Zusatzdiplom nicht hinaus. Angesichts geschlossener Schmerzambulanzen stellt sich die Frage, wer den Bedarf decken soll.
Dr. Wolfgang Jaksch, Präsident der Österreichischen Schmerzgesellschaft, kennt gute Gründe, warum Schmerzmedizin als Zusatzqualifikation, aber noch besser schon in der universitären Ausbildung einen höheren Stellenwert braucht. Das gesetzlich verankerte Patientenrecht auf bestmögliche Schmerzbehandlung dürfe nicht totes Recht bleiben, mahnte Jaksch im Einklang mit seinen Kollegen anlässlich der 15. Österreichischen Schmerzwochen. Gefragt sei der politische Wille für eine geplante, abgestufte Versorgung, in der jeder Schmerzpatient genau auf der Versorgungsstufe behandelt wird, die für seine Probleme am besten geeignet ist: vom Hausarzt über den spezialisierten Schmerzmediziner und die Schmerzambulanz bis zum multimodalen Schmerzzentrum, zur bettenführenden Schmerzabteilung oder zum spezialisierten Schmerz-Rehabilitationszentrum.
Bedarf außer Frage
Die kürzlich veröffentlichte Gesundheitsbefragung der Statistik Austria belegt eindrucksvoll, wie sehr Schmerz zu einem „Volksleiden“ geworden ist. Unter den zehn häufigsten chronischen Erkrankungen in Österreich finden sich gleich mehrere schmerzhafte Erkrankungen: An der Spitze liegen chronische Kreuz- und andere Rückenschmerzen mit 1,8 Millionen Betroffenen bzw. einer Prävalenz von 23 Prozent bei Frauen und 26 Prozent bei Männern. Weitere besonders verbreitete chronische Leiden: Chronische Nackenschmerzen und Beschwerden der Halswirbelsäule geben 19 Prozent der Befragten an. Unter Arthrose leiden im Durchschnitt acht Prozent der Frauen und 15 Prozent der Männer, bei den 60- bis 74-Jährigen ist es jede dritte Frau und jeder fünfte Mann. „Frühere Befragungen der ÖSG und Hochrechnungen aus internationalen Studien haben eine Prävalenz chronischer Schmerzen, also Schmerzen, die länger als drei bis sechs Monate andauern, von rund 20 Prozent gezeigt. Demnach gehen wir von mehr als 1,5 Millionen chronischen Schmerzpatienten in Österreich aus“, gibt Jaksch zu denken.
Diese weite Verbreitung des Problems hat nicht nur dramatische Folgen für jeden einzelnen Betroffenen, sondern auch für das Gesundheits- und Sozialsystem, wie einmal mehr eine große europäische Studie mit 14.459 Schmerzpatienten belegt hat, die auf dem EFIC Kongress in Wien präsentiert wurde. Die Untersuchung konnte bei Schmerzpatienten einen deutlichen negativen Zusammenhang zwischen Schmerzstärke und mentalem und physischem Befinden nachweisen. Jaksch ergänzt: „Je stärker die Schmerzen sind, umso stärker ausgeprägt sind auch der Verlust an Lebensqualität, der Aktivitätsverlust und Krankenstände und umso mehr werden Leistungen des Gesundheitssystems in Anspruch genommen.“
Gelenksschmerzen – oft unterbehandelt
Weltweit leidet etwa jeder Zweite über 50 Jahre unter Gelenksschmerzen. In vielen Fällen vergehen Jahre, bis die passende Therapie gefunden ist, obwohl in der Schmerztherapie große Fortschritte verzeichnet werden. Anlässlich der 15. Österreichischen Schmerzwochen informierte die Österreichische Schmerzgesellschaft über die weit verbreiteten Gelenksschmerzen und mögliche Therapieoptionen und Jaksch forderte einmal mehr eine bessere Versorgung der Patienten mit dieser Form der chronischen Schmerzen: „Die Österreichische Schmerzgesellschaft unterstützt aus gutem Grund die jährliche Aufklärungsoffensive der Welt-Schmerzgesellschaft IASP und der Europäischen Schmerzföderation EFIC, die heuer Gelenkschmerzen in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stellen.“
In den vergangenen Jahrzehnten hat die Häufigkeit von Gelenks- und Wirbelsäulenproblemen stark zugenommen. Chronische Kreuzschmerzen, Nackenschmerzen und Arthrose zählen zu den häufigsten Beschwerdebildern. Etwa 150 verschiedene Formen von Gelenksschmerzen wurden bisher identifiziert, mit etwa 20 Prozent weltweit tritt am häufigsten die Gelenksarthrose auf. Eine der häufigsten Ursachen für Gelenksschmerzen mit Arthritis infolge einer Systemerkrankung sind rheumatische bzw. rheumatoide Erkrankungen. Chronische Polyarthritis mit starken Bewegungseinschränkungen bis zur vollständigen Steifigkeit, entzündliche Prozesse an Gelenken und Bändern der Wirbelsäule sowie Stoffwechselerkrankungen wie Gicht bzw. Hyperurikämie, aber auch Infektionen, Schuppenflechte oder ein sinkender Östrogenspiegel führen unter anderem zu chronischen Gelenksschmerzen.
Schmerzen im Bewegungsapparat belasten die Betroffenen massiv, führen zu Bewegungseinschränkungen, sozialer Isolation, finanziellen Einbußen bis hin zur Arbeitslosigkeit, richten aber auch volkswirtschaftlich großen Schaden an. Viele Betroffene kommen zu spät zum Arzt, dann stellt auch noch die Diagnose eine große Herausforderung dar. Dabei stehen zahlreiche Verfahren zur Verfügung. „Unser Ziel muss lautet, schnell mit einer geeigneten Therapie zu beginnen und Patienten mit Gelenksbeschwerden rasch wieder in Bewegung zu bringen, denn das Risiko einer Schmerzchronifizierung ist sehr hoch“, wünscht sich ÖSG-Vorstandsmitglied Prof. Dr. Michael Ausserwinkler, Facharzt für Innere Medizin mit Spezialgebiet Rheuma-Erkrankungen in Villach. Eine breite Palette medikamentöser und nicht medikamentöser Verfahren kommt für die Therapie infrage. „Weil chronische Schmerzen eine große gesellschaftliche Herausforderung sind, muss eine bessere Versorgung der Patienten ganz oben auf der politischen Agenda stehen“, fordert Jaksch. bw
Nachgefragt bei ...
... Dr. Wolfgang Jaksch, Präsident der Österreichischen Schmerzgesellschaft
Wenn die Tendenz dazu geht, Schmerzambulanzen eher zuzusperren, welches Motiv hat ein Arzt dann, ein Zusatzdiplom für Schmerzmedizin zu machen?
Das Schmerzdiplom ist ja auch eine Zusatzqualifikation für niedergelassene Ärzte – insofern haben Diplom und Ambulanzen nur bedingt miteinander zu tun. Allerdings sind ja alle Ärzte bei ihrer Arbeit mit Schmerzproblemen konfrontiert. Solange das Thema Schmerz in der universitären Ausbildung nicht besser verankert ist, bietet diese postgraduelle Ausbildung ein gutes Rüstzeug zur adäquaten Versorgung dieser Patientengruppe, umso mehr, wenn weniger spezialisierte Einrichtungen zur Verfügung stehen.
Wären nicht Ambulanzen geeignet, um Schmerzmedizin als Querschnittsfach, also interdisziplinär, zu positionieren?
Natürlich wird von der ÖSG gefordert, dass auch in Österreich nach internationalem Standard Schmerzambulanzen und Schmerzzentren interdisziplinär geführt werden. Bei der optimalen Versorgung von Schmerzpatienten geht es aber nicht nur um Schmerzambulanzen: Die ÖSG fordert einen politischen Auftrag für eine geplante, abgestufte Versorgung, in der jeder Schmerzpatient genau auf der Versorgungsstufe behandelt wird, die für seine Probleme am besten geeignet ist. Das geht vom Hausarzt über den spezialisierten Schmerzmediziner und die Schmerzambulanz bis zum multimodalen Schmerzzentrum, zur bettenführenden Schmerzabteilung oder zum spezialisierten Schmerz-Rehabilitationszentrum.
Wenn Patienten statt in spezialisierte Schmerzambulanzen zu Allgemeinmedizinern gehen, wie stehen die dann dazu, dass das nicht einmal im Leistungskatalog der Krankenkassen abgebildet ist?
Das ist genau eines unserer großen Versorgungsprobleme: Die Ordinationen im niedergelassenen Bereich können die Engpässe, die durch die strukturellen Defizite bei Ambulanzen entstehen, nicht kompensieren. Dies schon deshalb, weil die Diagnostik und Therapie von Patienten mit chronischen Schmerzen zeitlich aufwendig ist und dieser Aufwand von den Krankenkassen nicht einmal annähernd abgegolten wird.
Wie gut werden derzeit Aus- und Fortbildungsoptionen in Schmerzmedizin genutzt?
Knapp 800 österreichische Ärzte besitzen zum jetzigen Zeitpunkt ein Schmerzdiplom. Bei den theoretischen Kursen – im Ausmaß von 120 Stunden – gab es in den letzten Jahren die erfreuliche Entwicklung, dass nicht nur Anästhesisten, sondern vermehrt Allgemeinmediziner und Mediziner in Ausbildung dieses Angebot genutzt haben. Problematisch ist die 80-stündige praktische Ausbildung. Die Reduktion der Schmerzambulanzen führt auch dazu, dass es weniger Angebot für diese zweiwöchige Ausbildung gibt.
Was wäre aus Sicht der ÖSG das ideale Szenario betreffend Zahl der Ärzte mit Schmerzdiplom, Zahl der Ambulanzen etc.?
Das ideale Szenario wäre, dass Ausbildungsinhalte des Schmerzdiploms nach deutschem Vorbild als Querschnittsfach fix in die universitäre Ausbildung integriert werden. Auch Österreich muss eine Spezialisierung zum Thema Schmerz anstreben, wie es in Deutschland seit ca. 20 Jahren der Fall ist.
Die Schwäche des Diploms ist vor allem die praktische Ausbildung von nur zwei Wochen. Wir streben eine praktische Ausbildung über einen längeren Zeitraum für eine Zusatzbezeichnung an. Dann kann eine strukturierte Schmerzversorgung aufgebaut werden. Dazu sind auch 40 bis 50 Schmerzambulanzen, die nach internationalen Standards aufgestellt sind und arbeiten und in ganz Österreich verteilt sind, notwendig. Zusätzlich braucht es sogenannte multimodale Kompetenzzentren nach dem Vorbild Klagenfurt. Im Sinne einer abgestuften Versorgung wäre zum Beispiel pro Bundesland ein solches Kompetenzzentrum notwendig, derzeit gibt es dies aber nur in Klagenfurt.
Hier geht es nicht nur um Zahlen, sondern um Strukturen. In einer Entschließung hat der Nationalrat im Vorjahr die Bundesministerin für Gesundheit ersucht, die Gesundheit Österreich GmbH (BIQ) mit der Grundlagenarbeit für Bundesqualitätsstandards zur Verbesserung der Versorgung von Schmerzpatienten in Österreich zu beauftragen. Die ÖSG steht gerne zur Verfügung, diesen Prozess tatkräftig zu unterstützen.
Bereits vor mehr als sieben Jahren hatte die ÖSG schon einmal in Zusammenarbeit mit dem ÖBIG Qualitätskriterien für schmerzmedizinische Einrichtungen entwickelt, deren Umsetzung dann leider der Blockade vieler Bundesländer zum Opfer fiel. In Unterstützung der Arbeit des BIQ hat die ÖSG jetzt neuerlich, unter Einbeziehung anderer Fachgesellschaften, ein aktuelles Papier zu Struktur und Qualitätskriterien für schmerzmedizinische Einrichtungen in Österreich erarbeitet. Das Konzept zur abgestuften Versorgung von Schmerzpatienten soll einen ersten Schritt zur Verbesserung darstellen, indem es Leistungs- und Qualitätsstandards unterschiedlicher schmerztherapeutischer Einrichtungen definiert.