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Ein sexueller Revoluzzer

Prof. DDr. Volkmar Sigusch, Direktor em., Institut für Sexualwissenschaft im Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt/Main, Praxisklinik Vitalicum am Opernplatz, – einer der international bedeutendsten Sexualforscher – im Wordrap


Foto: Marianne Rafter

Ich habe mich für ein Medizinstudium entschieden, weil ... ich mit einer geisteskranken Verwandten aufgewachsen bin. Die Spezialisierung auf Psychiatrie und Sexualwissenschaft entstand hinsichtlich der Sexualwissenschaft eher durch einen Zufall, weil ich als Doktorand statt bei einem Ordinarius der Psychiatrie, der gerade aus Altersgründen ausschied, bei dem ersten deutschen Sexualforscher landete, der auch Psychiater war: Hans Giese.

Sexualwissenschaften sind ... die Folge der allgemeinen Verobjektivierung und Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche in unserer westlichen Kultur.

Merkmal einer modernen Sexualmedizin ist, dass ... sie dem Menschen zugewandt ist, mit ihm ausführlich spricht und ihn nicht mit Medikamenten abspeist.

Neosexuelle Revolution ist ... die Vervielfältigung der sexuellen Lebensweisen, der Geschlechter und der Sexualitäten, die Aufteilung der alten, der Paläosexualität in einzelne Teile, zum Beispiel die Trennung von Fortpflanzung und Sexualität, die Dispersion der Fragmente, insbesondere durch das digitale Weltnetz, die Geburt einer neuen Sexualform, die ich E-Sex nenne usw.

Moderne Mediziner sollten über Sexualität wissen, dass ... sie ebenso körperlich wie seelisch wie kulturell fundiert ist und dass keine Sexualität eines Menschen mit der eines anderen identisch ist.

Entwicklungen in der Sexualmedizin, die ich bedenklich finde, ... habe ich immer offen bekämpft, zum Beispiel die Kastration aus juristischen Gründen, die stereotaktischen Hirneingriffe bei abweichendem Sexualverhalten, die falschen Behandlungen sexueller Erlebensstörungen mit Medikamenten, die falsche operative Behandlung von Intersexuellen usw.

Die Sexualität von heute unterscheidet sich von jener vor 50 Jahren ... vor allem durch die allgemeine Anerkennung der weiblichen Sexualität, die heute oft lebendiger ist als die männliche, sowie durch die Entpönalisierung früher als pervers bezeichneter sexueller Vorlieben.

Der schlimmste Hemmschuh der Sexualität ist ... heute die allgemeine und tagtägliche Bombardierung mit angeblich erotischen Reizen, die dadurch jeden Reiz verlieren.

Für die Zukunft der Sexualmedizin wünsche ich mir, dass ... sie von den Universitäten endlich allgemein anerkannt wird, in der Lehre und in der Forschung. Das ist ja bisher nicht der Fall.

Erholung finde ich in meiner Freizeit ... in drei Spielrunden, eine mit Freundinnen, eine mit Ärzten von sehr jung bis sehr alt und eine mit Psychoanalytikern. bw

Volkmar Sigusch wurde 1940 geboren und gilt als einer der international bedeutendsten Psychiater und Sexualwissenschaftler. Er studierte Medizin, Psychologie und Philosophie in Frankfurt am Main, Berlin und Hamburg und war danach als Sexualwissenschaftler, Hochschullehrer und Direktor des Zentrums der psychosozialen Grundlagen der Medizin des Klinikums der J. W. Goethe Universität Frankfurt am Main bzw. Vorstand des Instituts für Sexualwissenschaft ebendort tätig. Sigusch kann als Pionier einer modernen deutschen Sexualmedizin und als Begründer der kritischen Sexualwissenschaft betrachtet werden. Er erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, publizierte Bücher wie „Ergebnisse zur Sexualmedizin“ oder „Die Mystifikation des Sexuellen“, die als Klassiker gelten, und lieferte unzählige, gern gesehene Beiträge für Fachmagazine, Zeitungen und Zeitschriften. Volkmar Sigusch prägte den Begriff der Neosexuellen Revolution. Aktuell sind seine internationalen Bestseller „Geschichte der Sexualwissenschaft“, das „Personenlexikon der Sexualforschung“  und zuletzt „Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten“.