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„Ein ganz besonderer Beruf“

Die Entwicklung hin zu einem partnerschaftlichen Verhältnis zwischen Arzt und Patient sei für die Ärzteschaft insgesamt durchaus erfreulich, findet Dr. Oliver Scheel. Welche Herausforderungen sonst noch auf die Ärzte zukommen, erläutert der A.T. Kearney-Partner und Leiter des Beratungsbereichs Pharma & Healthcare im Interview mit ÄrzteEXKLUSIV.


Dr. Oliver Scheel, A.T. Kearney-Partner, Leiter des Beratungsbereichs Pharma & Healthcare

Herr Dr. Scheel, viele Spitalsärzte beklagen zunehmende Überlastung, überbordenden bürokratischen Aufwand und zu wenig Zeit für Patienten. Was läuft hier schief?
Eine gestiegene Arbeitsdichte aufgrund des Fallpauschalensystems, ein größerer Dokumentationsaufwand aufgrund von zunehmenden Qualitätskontrollen, eine nicht ausreichende Delegation nicht-ärztlicher Aufgaben sowie zunehmende rechtliche Anforderungen kollidieren bei konstantem Stellenschlüssel miteinander und führen zu einer Extremsituation für Ärzte in Spitälern.

Was kann der einzelne Arzt tun bzw. was müsste am System geändert werden, um die Situation zu verbessern und den Arztberuf wieder attraktiver zu machen?

Zum einen können Ärzte durch eine maximale Delegation von zeitintensiven, nicht-ärztlichen Tätigkeiten an medizinische Assistenzberufe entlastet werden. Das Potenzial in diesem Bereich ist längst noch nicht ausgeschöpft. Hilfreich wäre auch eine Anpassung des Arbeitszeitmodells, insbesondere der Nacht- und Wochenenddienste, bei angemessener Vergütung. Sinnvoll wäre darüber hinaus eine Förderung von Teilzeitarbeit mit Sicherstellung der Kinderbetreuung. Diese ist in anderen Branchen bereits gut etabliert. Eine weitere Entlastung würde eine Modernisierung der IT-Infrastruktur mit dem Ziel einer Volldigitalisierung der Krankenhausdaten bringen. Förderlich wäre zudem eine intelligente Automatisierung unterstützender Prozesse wie etwa der Leistungsdokumentation statt einer Verkomplizierung des Krankenhausalltags. Vorteilhaft würde sich nicht zuletzt die Entwicklung einer landesweiten Mobile-Health-Plattform für eine krankenhaus- sowie sektorübergreifende Patientenversorgung auswirken. Dadurch ließen sich Kosten sparen und die Patientenbehandlung verbessern, vor allem bei chronischen Erkrankungen.

Welche Möglichkeiten und welche Gefahren bringt die technologische Entwicklung für die Ärzte?

Die technische Entwicklung schreitet voran, allerdings werden dadurch die Kompetenzen des Arztes nicht bedroht. Im Gegenteil, durch die zunehmende Informationsflut ist es umso wichtiger, auf Basis der ärztlichen Kompetenz und Erfahrung die richtigen Informationsbestandteile zu identifizieren und entsprechend zu interpretieren. Von daher wird es in Zukunft umso wichtiger sein, medizinische Masseninformationen richtig zu priorisieren und anzuwenden. Gegebenenfalls kann dieser Prozess durch Expertensysteme unterstützt werden, auch hier gibt es bereits erste Ansätze.

Wirken sich Qualitätsanforderungen und steigende Dokumentationspflichten auf den medizinischen Alltag aus?
Selbstverständlich ist eine lückenlose Dokumentation notwendig, allerdings handelt es sich dabei nicht um einen Kernprozess, sondern um einen Vorgang, der im Hintergrund abläuft und den Arzt von der eigentlichen medizinischen Tätigkeit nicht ablenken sollte. Heute haben jedoch viele Ärzte nachweislich das Gefühl, mehr zu dokumentieren, als sich dem Patienten und seinen Belangen zu widmen. Eine vergleichbare Entwicklung ist bei den medizinischen Assistenzberufen ebenfalls zu beobachten. Das hat auch unsere Studie zur Komplexität im Gesundheitswesen vom Dezember 2011 ergeben.

Das Image vom „Gott in Weiß“ ist längst verflogen. Kritischere und kompetentere Patienten verlangen dem Arzt vermehrt auch kommunikative Fähigkeiten ab.

Es stimmt, dass Patienten im Durchschnitt kritischer und selbstbewusster werden sowie besser informiert sind. Es ist offensichtlich, dass dies einen direkten Einfluss auf das Verhältnis zwischen Arzt und Patient hat, nicht aber auf die Behandlungsqualität. Gerade bei wichtigen therapeutischen Entscheidungen können weder das Internet noch andere Informationsquellen die besondere Erfahrung des behandelnden Arztes bzw. die Zweitmeinung eines Kollegen ersetzen. Insgesamt ist diese Entwicklung hin zu einem partnerschaftlichen Verhältnis zwischen Arzt und Patient für die Ärzteschaft erfreulich. Dadurch wird es für Ärzte allerdings umso wichtiger, sich im Rahmen regelmäßiger Fortbildungen auf dem neuesten Stand der diagnostischen und therapeutischen Standards zu halten.

Kommen wir zu den niedergelassenen Ärzten: Viele ländliche Regionen in Österreich beklagen einen zunehmenden Ärztemangel. Die Situation wird sich zukünftig noch verschärfen. Warum sind junge Mediziner immer schwerer zu motivieren, niedergelassene Praxen zu übernehmen?
Der Ärztemangel in den ländlichen Regionen bzw. eine regionale Fehlverteilung ist ein Phänomen, das in vielen Ländern beobachtet wird. Mehrere Faktoren liegen diesem Trend zugrunde: Die Ärzte studieren in Großstädten, gründen in der Zeit hier Familien und gestalten ihren Lebensmittelpunkt. Viele Assistenzärzte wollen auch nach ihrem Studium weiterhin Forschung betreiben, was vor allem an den in größeren Städten angesiedelten Universitätskliniken stattfindet. Provokativ gesprochen kann man den Trend des Ärztemangels in ländlichen Regionen auch in Bezug zum aktuellen Vergütungssystem setzen. Der Umsatz einer Praxis hängt meistens von der Anzahl der Patienten und dem Anteil an Privatpatienten ab. Beide Faktoren sind im ländlichen Gebiet nicht stark ausgeprägt, wodurch die Attraktivität einer Niederlassung mit den typischen Risiken der Selbstständigkeit stark abnimmt.

Die Politik fordert mehr Flexibilität und Kooperationsbereitschaft von den niedergelassenen Ärzten, Stichwort: Gruppenpraxen, verlängerte Rand- und Wochenendöffnungszeiten.

Eine größere Flexibilität und eine stärkere Patientenorientierung der niedergelassenen Ärzte und Praxen ist eine verständliche Forderung. Allerdings muss hierbei die Balance gefunden werden zwischen der Erfüllung der Patientenbedürfnisse und der Attraktivität des Arztberufes mit angemessenen Arbeitszeiten und Vergütung. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Risiken einer Selbstständigkeit für niedergelassene Ärzte nicht weiter erhöht werden.

Wagen Sie eine Prognose: Was wird der Arzt 2020 können müssen, welchen Herausforderungen wird er gegenüberstehen?
Der Arzt von morgen wird – wie heute – kein Übermensch sein, sondern immer noch einen besonderen Beruf ausüben, in dem vorwiegend der kranke Mensch im Mittelpunkt stehen wird – unabhängig davon, wie viel Technologie und Administration zwischen ihnen stehen wird. Eine besondere Herausforderung für den Arzt von morgen wird es sein, sich bereits im Studium mit den Themen Prozesseffizienz und Organisationsoptimierung zu beschäftigen. Dies befähigt die zukünftige Ärzteschaft dazu, die aktuellen Problemfelder in den Spitälern und Arztpraxen frühzeitig zu erkennen und gemeinsam mit der Administration zu lösen.       vw