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Die Volkskrankheit

Die politischen Diskussionen um Primärversorgungszentren fokussieren einmal mehr den Blick auf die Versorgung chronisch Kranker, wie zum Beispiel Diabetiker. Und das ist gut so, denn die Zahl der Betroffenen steigt und damit auch die Kosten für das System. Lösungen sind aber noch keine in Sicht.


Univ.-Prof. Dr. Thomas C. Wascher. Foto: ZVG

EXPERTE: Univ.-Prof. Dr. Thomas C. Wascher
Leitung Diabetologie an der 1. Medizinischen Abteilung im Wiener Hanusch-Krankenhaus,
Vorstandsmitglied der Österr. Diabetes Gesellschaft (ÖDG),
www.oedg.org

Die Zahlen über Diabetes-Tote sind wenig alarmierend, aber auch nicht aussagekräftig, weil Menschen nicht mehr an Diabetes per se versterben, sondern an seinen Folgeerkrankungen. So hat etwa das Karolinska Institut in Stockholm erhoben, dass jeder zweite Mensch, der einen Herzinfarkt erleidet, Diabetes hat, aber zwei von fünf dieser Diabetiker vor dem Infarkt nicht wussten, dass sie die Erkrankung haben. Wissenschaftliche Arbeiten legen nahe, dass in Industrienationen zumindest 12,5 % aller Todesfälle auf Diabetes mellitus zurückgeführt werden können. Gelingt es nicht, präventive Strategien gegen die Erkrankung auf vielen Ebenen zu etablieren, wird die Zahl der Todesfälle in den nächsten Jahren weiter steigen. Die direkten Behandlungskosten, aber auch der Aufwand für die zum Teil schwerwiegenden Folgeerkrankungen belasten das Gesundheitssystem in einem hohen Ausmaß. Dennoch wird in der öffentlichen Wahrnehmung und in der politischen Diskussion dem Thema noch immer zu wenig Bedeutung beigemessen.

Wenn dem Reden keine Taten folgen

Bereits jetzt werden die direkten Kosten von Diabetes und seinen Folgeerkrankungen in Österreich auf 4,8 Mrd. Euro pro Jahr geschätzt. Je nach Vorhandensein von Folgeerkrankungen liegen die Gesundheitskosten eines Menschen mit Diabetes mellitus um 30 bis 400 % über jenen eines Nicht-Diabetikers. Für Diabetiker lassen sich daher auf Basis aktueller Zahlen und Trends Kosten von mehr als acht Milliarden Euro prognostizieren und trotzdem kann von einer „nicht wahrgenommenen Volkskrankheit“ gesprochen werden. „Informationen sind nur die halbe Miete. Es scheitert bei vielen Angeboten an der Umsetzung“, ist Univ.-Prof. Dr. Thomas C. Wascher, Leiter des Bereiches Diabetologie an der 1. Medizinischen Abteilung im Wiener Hanusch-Krankenhaus und Vorstandsmitglied der Österreichischen Diabetes Gesellschaft (ÖDG), überzeugt. Der Grund dafür scheint einfach, aber deswegen um nichts weniger dramatisch: Die Erkrankung verursacht über lange Zeit kaum wirklich Schmerzen und wird daher in ihrer Tragweite nicht ernst genommen. Schwerwiegende Folgeerkrankungen wie Erblindung oder Amputation werden so lange ausgeblendet, bis sie praktisch nicht mehr zu verhindern sind.

Nicht nur ungesunder Lebensstil

„Kaum ein Betroffener, der heute keinen Leidensdruck durch die Erkrankung hat, stellt sich die Frage, wie es ihm in 15 Jahren gehen wird. Diabetes hat kein besonders gutes Image und wird gerne tabuisiert. Nach wie vor ist die weit verbreitete Meinung, dass Diabetes lediglich einem ungesunden Lebensstil entspricht und daher ‚leicht’ zu ändern ist, wenn der Betroffene nur willensstark genug wäre“, so Wascher. Das Wissen über Diagnose, Therapie und die Folgeerkrankung ist nach Ansicht des Experten durchaus vorhanden, aber: „Was wir jetzt dringend brauchen, ist die Versorgungsforschung sowie Ideen zur Motivation der Betroffenen. Wir haben ausreichende und gut wirksame Behandlungsstrategien, leider sind viele mangels Adherence fast wirkungslos.“ Zu wenig Bewegung und falsche Ernährung sind die zwei Hauptursachen für Diabetes und hier sind weniger medizinische Kenntnisse als gesellschaftspolitische Strategien gefragt. Eine Arbeits- und Lebenswelt, die einen ungesunden Lebensstil fördert, macht die Erfolge der Aufklärungsangebote genauso rasch wieder zunichte, wie sie bei der Bevölkerung ankommen. „Wer dann an Diabetes erkrankt, hat doppeltes Pech: eine genetische Prädisposition und ein Umfeld, das den Ausbruch der Krankheit massiv fördert “, so Wascher.

Unattraktive Aufgabe

Weniger Arztstunden in den Spitälern führen zwangsläufig dazu, dass komplementäre Leistungsanbieter diese zunehmend spürbare Versorgungslücke füllen müssen. Ansätze für Disease-Management-Programme sind vorhanden, jedoch weit weg von flächendeckend oder gar qualitätskontrolliert. Diabetes braucht eigenverantwortliche Patienten, das erfordert ein Umdenken in der gesamten Versorgungslandschaft. Die Pille, die alles wieder gut macht, gibt es nicht. Allgemeinmediziner und Internisten gelten als erste Anlaufstelle, hier braucht es vor allem Zusatzqualifikationen. In Deutschland gibt es ein erfolgreiches Modell, das diese Weiterbildung auch honoriert. In Österreich fehlen den Kassenärzten die Verrechnungspositionen, die eine zeitintensive Betreuung für Ärzte auch interessant machen. Nur jene Ärzte, die Mitglied bei „Therapie aktiv“ sind, können hier auch entsprechende Positionen abrechnen.
Neben dem Ausbau der Zusatzqualifikationen sieht Wascher auch die Einbettung des Themas in die Primärversorgungszentren (PHC) als eine gute Strategie, um die Versorgung zu verbessern. „Zurzeit haben wir eine überaus spitalslastige Betreuung von Diabetespatienten, das belastet die ohnehin knappen Ressourcen im Gesundheitssystem mehr als nötig. Die steigende Zahl der Betroffenen wird das Problem künftig verschärfen, außer das Thema wird im Zuge der PHCs mitbedacht.“ Je früher eine adäquate Betreuung – die im besten Fall multiprofessionell organisiert ist – einsetzt, umso besser ist es für die Betroffenen und ihre Lebensqualität. „Primärversorgungszentren bieten durchaus eine große Chance, den Spitalsbereich zu entlasten und gleichzeitig eine standardisierte und flächendecke Versorgung sicherzustellen“, meint Wascher.
Versorgungszentren schaffen zweifelsohne Vorteile für Arzt und Patienten und damit wohl erst recht für jene, die regelmäßig Betreuung benötigen. Derzeit ist dieser Aufwand für die niedergelassenen Mediziner, Typ-2-Diabetiker zu betreuen, – mit Ausnahme jener im Disease-Management-Programm – mangels Refundierung aber wenig attraktiv. Preis und Leistung gegenüberzustellen, wird auch einem PHC schlussendlich nicht erspart bleiben. rh