Die neue Ära der Manufakturen
Manchmal bewirken wirtschaftlich schwierige Zeiten nachhaltig Gutes. In der Uhrenindustrie ist genau dieser Effekt eingetreten: Dank gesunder Rückbesinnung auf traditionelle Werte hat das Genre der Manufaktur wieder an Bedeutung gewonnen.
In den vergangenen Jahren wurde die Uhrenindustrie von großen Veränderungen geprägt. Immer mehr Marken finden sich unter dem Dach eines großen Konzernes wieder – immer weniger können als Einzelkämpfer bestehen. So richtig in Bewegung kam die Branche – abgesehen von der generellen Wirtschaftssituation –, als der weltweit größte Werkelieferant ETA (zur Swatch Group gehörig) ankündigte, gemäß eines Abkommens mit der schweizerischen Wettbewerbskommission Weko 2011 die Lieferung modulierbarer Ebauches (mechanischer Rohwerke in Einzelteilen) einzustellen. Das bedeutete das Ende von individualisierten Werken auf der Basis eines ETA-Kalibers. Nachdem vom größten Lieferanten bald nur noch komplett zusammengebaute mechanische Werke zu bekommen waren, sahen sich viele Unternehmen gezwungen, nach Alternativen zu suchen beziehungsweise eine wegweisende strategische Entscheidung zu treffen. Der Weg zurück zur Manufaktur bedeutet zwar ein Image-Plus, die Entwicklung eigener Uhrwerke geht jedoch mit großen Investitionen einher, die sich in den meisten Fällen in einem neuen Preisgefüge niederschlagen.
Neue Bandbreite
Eine preisbedingte Neupositionierung einer etablierten Marke birgt ein hohes Risiko. Nicht jede hat das Potenzial, in der obersten Liga mitzuspielen. Der Markt kann im Luxussegment auch nur eine gewisse Anzahl an Anbietern aufnehmen. Ein erfolgreiches Upgrade gelang vor allem großen Namen, deren Wiedereinstig in den Kreis der Manufakturen vom Konsumenten quasi erwartet wurde, wie das bei Omega, Breitling oder IWC Schaffhausen der Fall ist. Andere haben mit dem neuen Preissegment, in das sie eingedrungen sind, durchaus zu kämpfen und suchen jetzt nach Wegen, ihre Uhren wieder „leistbarer“ zu machen.
Kreative Newcomer
Nomos Glashütte (seit 1990) oder Frederique Constant sowie ihre Schwestermarke Alpina (seit 1988) haben keine jahrhundertelange Geschichte vorzuweisen. Dafür konnten die Unternehmensgründer ihren Traum von einer eigenen Uhrenmanufaktur frei von firmenspezifischen Traditionen realisieren.
Zudem ist es gerade diesen beiden Betrieben gelungen, eine neue Einstiegspreisklasse für Manufaktur-Uhren (bei Nomos schon ab ca. 1.000 Euro) zu besetzen.
Obwohl die Kaliber heute am Computer entwickelt werden und erst danach Prototypen zu Testzwecken entstehen, ist der Begriff Manufaktur keineswegs überholt. In der langen Geschichte der Uhrmacherkunst hat sich zwar vieles verändert, doch zahlreiche handwerkliche Arbeitsschritte sind trotz Computertechnologie und modernster Fertigungsmethoden unverändert geblieben. Das menschliche Auge, die Erfahrung und Flexibilität kompetenter Facharbeiter sind durch keine Maschine zu ersetzen und das wird hoffentlich noch lange so bleiben. ibk
Manufaktur: Im Wandel der Zeit
Ursprünglich wurde in einer Manufaktur jede einzelne Komponente der Uhr unter einem Dach gefertigt. Im Zuge der Industrialisierung erwies sich die Auslagerung einzelner Produktionsbereiche an Spezialisten für Uhrbänder, Gehäuse, Zifferblätter, Zeiger oder einzelne Werkteile als wirtschaftlich vernünftiger. Dennoch fertigten viele Uhrenmarken bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ihre Werke im eigenen Haus. In den 1970ern stürzte der Quarzuhrenboom die meisten Schweizer Hersteller in eine schwere Krise. Viele verschrotteten nicht nur die als veraltet betrachteten Mechanikwerke, sondern auch die zugehörigen Fertigungsanlagen. Anfang der 1980er-Jahre war nur mehr eine verschwindend kleine Gruppe von Manufakturen übrig, darunter Patek Philippe, Jaeger-LeCoultre, Vacheron Constantin und Rolex. Dank der Renaissance der Mechanik konnten zahlreiche Traditionsbetriebe (wie Audemars Piguet oder Zenith) ihre Manufakturtätigkeit wieder aufnehmen. Gemeinsam mit jungen, neu gegründeten Marken wie beispielsweise Chronoswiss, Roger Dubuis oder Parmigiani zählen heute rund 30 Betriebe zum elitären Kreis der Manufakturen.
Nach den ungeschriebenen Gesetzen der Uhrmacherei darf sich ein Uhrenhersteller nur dann Manufaktur nennen, wenn er zumindest ein eigenes Kaliber entwickelt hat und dieses auch selbst fertigt. Die einzelnen Werkkomponenten dürfen durchaus von spezialisierten Betrieben zugekauft werden.