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Die Kunst der Leere

Purismus schafft freien Raum und gibt mehr Platz zum Leben. Warum ein puristischer Wohn- und Einrichtungsstil nicht zwingend mit Kühle und fehlendem Charme zu tun hat, wissen Einrichtungsprofis.


Alpin-Programm von Voglauer: Holz vermittelt Wärme, selbst wenn die Formen schnörkellos und schlicht sind.

Eine sparsame Ausstattung bedeutet nicht, dass Räume dadurch automatisch nüchtern, manchmal regelrecht ungemütlich „kalt“ werden. Materialien spielen eine entscheidende Rolle bei dieser Einrichtungslinie, aber auch Farben, Licht, Formen und eine durchdachte Positionierung markanter Elemente. Einige Überlegungen sind jedoch allemal angebracht, damit Räume durch den puristischen Stil nicht an Wärme verlieren.

Weniger ist mehr

Die Philosophie der Reduktion ist nicht neu. Schon den Römern wird nachgesagt, dass sie ganz bewusst auf wenige, funktionale Einrichtungsstücke setzten und Überladenes, Ungenutztes und allzu viel Dekoration mieden. Sprichwörtlich geprägt wurde der Purismus des Wohnens aber vom legendären Architekten Ludwig Mies van der Rohe, auf den der Spruch „Weniger ist mehr“ zurückgeht. Er wehrte sich damit gegen die damals aktuelle Detailverliebtheit, die der Moderne weichen musste, und plädierte für eine Reduktion auf das Wesentliche. Große Flächen – im Idealfall ein Loft oder großzügige Häuser mit viel Luftraum – verlangten nach dem Verbergen von Krimskrams, nach wenigen, gut durchdachten Positionierungen ausgewählter Objekte und Gegenstände mit vorrangig glatten Oberflächen und edler Schlichtheit. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Die Grundströmung der Reduktion ist geblieben, wenn auch mehrere unterschiedliche Wohnstile nebeneinander existieren – und gerne auch abwechselnd gelebt werden dürfen. Den gemütlichen, leicht vollgeräumten Einrichtungsstil gibt es nach wie vor – so wie zahlreiche weitere „Trends“ –, doch die Lust nach Entrümpelung, Vereinfachung, Reduktion wird immer häufiger ausgelebt. „Wohnpsychologie ist jedoch generell sehr skeptisch gegenüber Trends und warnt sogar davor, irgendwelchen Modeströmungen hinterherzuhecheln“, warnt der Wohnqualitätsforscher und Wohnpsychologe Dr. DI Harald Deinsberger-Deinsweger von Wohnspektrum. „Die Wohnung sollte primär der eigenen Persönlichkeit entsprechen und weniger von außen suggerierten Vorstellungen vom ‚guten und schönen Wohnen‘ folgen. Letzteres kann die sogenannte emotionale Ortsverbundenheit sogar deutlich senken, das heißt man kann sich auch sehr schnell mal fremd in der eigenen Wohnung fühlen.“

Purismus gegen Reizüberflutung

Baumeister Mag. Herbert Reichl beschäftigt sich ebenfalls mit Wohnpsychologie und beleuchtet puristisches Wohnen unter diesem Aspekt. „Die wissenschaftliche Forschung belegt, dass die optimale Wahrnehmungsqualität bei einem mittleren Reizniveau liegt, das heißt wir fühlen uns wohl, wenn wir durch Sinneseindrücke weder überfordert (Reizüberflutung) noch unterfordert (Monotonie) sind“, sagt der Experte. „Purismus tendiert zur Reduktion von Sinnesreizen und ist damit eine sinnvolle Gegenbewegung bei Wahrnehmungsstress, wobei die Gefahr besteht, dass im Purismus das Pendel in die Gegenrichtung ausschlägt, nämlich einer zu starken Reduktion.“ Unser Nervensystem brauche Reize in einem richtigen Ausmaß, um gesund zu bleiben. Diese Reduktion erfolge oft hinsichtlich der Farben. „Wenn Weiß als alleinige Farbe vorherrscht, ist dies bedenklich, weil vor allem Stressreduktion, Wärme, Behaglichkeit, Geborgenheit mit einem warmen Grün, Orange oder warmen Naturfarben erreicht wird.“ Weiß ist nicht umsonst die Farbe der medizinischen Arbeitskleidung, denn Weiß symbolisiert Sauberkeit, Sterilität.
Erholung und Regeneration im Alltag benötigen das richtige Maß an Sinnesreizen, die Einbindung von Naturelementen und räumliche Geborgenheit. „Die erholsame Wirkung der Räume wird jedoch gestört, wenn die Natur zu sehr ausgesperrt wird, keine Naturelemente in Form von Materialien, Bildern, Farben oder Pflanzen im Raum zu finden sind und eine kühle Atmosphäre erzeugt wird. Eine zu starke Offenheit von Räumen verhindert für viele Menschen, sich geborgen zu fühlen. Das Bedürfnis nach einer kuscheligen Ecke, Nische oder Höhle ist uns zu Eigen und kann nicht durch ästhetische Aspekte wegdiskutiert werden“, ergänzt Reichl. Holzelemente und „warme“ Materialien und Farben, wie sie Voglauer, Team 7 oder Leder Appel im Programm haben, setzen also ganz bewusst auf schlichtes Design und gerade Linien, erfüllen jedoch den Anspruch der Wärme und Geborgenheit durch wertiges Material, durchdachte Farbgebung und aussagekräftiges Design.

Auch Deinsberger-Deinsweger hat prinzipiell nichts gegen Purismus einzuwenden: „Wenn puristisch zurück zur Einfachheit bedeutet, dann spricht auch aus wohnpsychologischer Sicht im Prinzip nichts dagegen. Man kann auch mit einfachen Mitteln eine hohe Wohnqualität herstellen, wenn man weiß wie. Aber: Es lauert bei puristisch designten Wohnungen stets auch die große Gefahr, dass man sogenannte sensorisch deprivative Wohnumwelten erzeugt.“ Das würde bedeuten, dass ein Mangel an Sinneseindrücken entstehe, der eine Reihe von Konsequenzen nach sich ziehen kann: innere Unruhe, Gereiztheit, verminderte Konzentrationsdauer und anderes mehr.

Ebenfalls relevant für einen puristischen Wohnstil ist das konfliktfreie Wohnen in großen Räumen. „Im Zusammenleben brauchen Menschen, vor allem Familien mit Kindern, eine richtige Zonierung. Unter­schiedliche Tätigkeiten können sich gegenseitig stören und in großen, leeren Räumen zu Nutzungskonflikten führen. Vor allem Kinder brauchen ein hohes Ausmaß an Sinnesreizen, Berührungsqualitäten und auch Spielbereiche. So betrachtet ist puristisches Wohnen eher als ästhetisches Ideal zu sehen und nicht unbedingt als alltagstaugliches Konzept für Familien“, warnt Reichl.

Vorsicht Monotonie

Deinsberger-Deinsweger weiß um die Gefahr von sogenannten deprivativen Wahrnehmungräumen. Das bedeutet: „Monotonie ist unbedingt zu vermeiden – beispielsweise rundum nur weiße, glatte Oberflächen wären bei einer puristischen Ausstattung nicht empfehlenswert. Bei größeren Flächen sollte man eher Materialien wählen, die auch in ihrer Einfachheit noch ein hohe sinnliche Qualität bieten: zum Beispiel Holz, Naturstein oder strukturierte Putzflächen mit mehrschichtigem Farbauftrag. Sichtbeton kann man verwenden, jedoch nicht im Übermaß und an den richtigen Stellen – besser als das übliche Naturgrau wäre, insbesondere bei einer puristischen Ausstattung, ein gefärbter Beton mit den zum jeweiligen Design passenden Farbnuancierungen.“
Reichl kann Purismus viel abgewinnen, puristisches Wohnen könne die Persönlichkeitsentfaltung fördern, indem überladene Wohnungen vereinfacht werden und dadurch neue Freiräume entstehen. Werde Purismus jedoch als ästhetisches Ideal gesehen, kann es auch vorkommen, dass der Wunsch nach Gestaltung dadurch eingeschränkt wird. Noch einen Pluspunkt sieht Reichl: „Durch die Reduktion auf das Wesentliche ist es möglich, das eigene Leben ressourcenschonender zu gestalten. Das Bedürfnis nach Vereinfachung besonders im nahen Lebensbereich des Wohnens ist gerade in einer Zeit der Überlastung, Überforderung und Konsumorientierung eine sehr sinnvolle Gegenbewegung und kann für viele Menschen eine Entlastung bringen.“ Andere wichtige Wohnbedürfnisse dürfen jedoch durch einen puristischen Lebensstil nicht untergraben werden. Daher kommt der Wohnpsychologe zu folgendem Schluss: „Überprüfen Sie als Person, welche Bedürfnisse in Ihrem Leben wichtig sind und was Ihre Lebenssituation verlangt. Und überprüfen Sie dann, ob puristisches Wohnen Ihr Leben wirklich vereinfacht und Ihre Lebensqualität verbessert. Aus ästhetischen Gründen einem Ideal nachzujagen, kann sich sehr schnell als Irrweg erweisen.“ bw