Die Diabeteswelle rollt
Alarmierende Zahlen lassen das Thema Diabetes nach wie vor nicht aus dem Zentrum der Gesundheitsdebatte rücken. So liegen etwa die Gesundheitskosten eines Menschen mit Diabetes mellitus je nach Vorhandensein von Folgekrankheiten um 30 bis 400 % über jenen eines Nichtdiabetikers.
In Österreich stirbt alle 50 Minuten ein Mensch an den Folgen des Diabetes, 2.500 Amputationen werden jährlich an Diabetikern vorgenommen und im selben Zeitraum werden 300 Menschen mit Diabetes wegen ihres Nierenversagens dialysepflichtig. In Mitteleuropa ist die Zahl der Diabetiker seit 1998 um rund 40 % gestiegen. OA Dr. Helmut Brath, Diabetesambulanz des GZ Süd der Wiener Gebietskrankenkasse und Erster Sekretär der Österreichischen Diabetes Gesellschaft (ÖDG), über die internationale Situation und wirksame Strategien.
Wie schätzen Sie die internationale Diabetessituation ein?
Wir sehen weltweit eine Welle auf uns zurollen, man kann von einem Diabetes-Tsunami sprechen. Die Wachstumsraten betragen rund vier bis fünf Prozent pro Jahr. In den letzten 20 Jahren haben sich die Zahlen der Menschen mit Diabetes weltweit verdoppelt. In manchen Ländern wie Pakistan, Mexiko oder im arabischen Raum sehen wir besonders dramatische Zahlen, wo bereits einer von fünf erwachsene Menschen Diabetes hat. Laut Schätzungen der Internationalen Diabetes Föderation (IDF) leiden derzeit knapp 400 Millionen Menschen Diabetes. Wäre diese Anzahl ein Land, wäre
es das drittbevölkerungsreichste Land der Welt. Wir müssen aber gar nicht so weit weggehen, allein in Wien haben wir schon ca. 150.000 Betroffene und 10 % davon leiden an schweren Komplikationen.
Sind diese dramatischen Zahlen auch im Bewusstsein der Bevölkerung angekommen oder nur im Kreise der Medizin?
Wir wissen, dass der Kampf gegen Diabetes nicht in den Arztordinationen zu gewinnen ist. Es braucht das breite Verständnis und Bewusstsein in der Bevölkerung, dass Diabetes eine reelle Gefahr für jeden Einzelnen ist und dass durch ausreichende Bewegung und durch richtige Ernährung diesem vorgebeugt werden kann bzw. dieser im Griff behalten werden kann. Dieses Problembewusstsein nimmt mehr und mehr zu, noch aber fehlt häufig der Schritt vom Wissen zum Handeln. Jeder Wandel beginnt mit dem ersten Schritt und der ist das Verständnis für die Problematik. Insofern sind wir auf einem guten Weg, wir sollten ihn nur ein wenig schneller beschreiten, als Einzelner und als Gemeinschaft.
Wo liegen die unterschiedlichen Herausforderungen in industrialisierten Staaten und Schwellenländern?
Ich denke, dass in vielen Ländern, die gerade erst die Geißeln von Armut oder Krieg hinter sich gelassen haben, genau dieses Wissen und Bewusstsein über die Bedeutung des gesunden Lebensstils noch nicht angekommen ist. Zudem sind Therapien kostspielig und in ärmeren Ländern daher nicht für die breite Masse bezahlbar. Auf der anderen Seite sind die Kosten der Diabetestherapie wesentlich geringer als die hohen Folgekosten, die dem Einzelnen, aber auch der Familie, den Sozialversicherungen oder der gesamten Volkswirtschaft entstehen. Da wäre dann natürlich das enorme Leid, das die Folgeerkrankungen des Diabetes wie Herzinfarkte, Schlaganfälle, Erblindung, Nierenversagen, Fußamputationen etc. dem Einzelnen und dessen Umfeld bringen.
Wie stehen wir in Österreich im internationalen Vergleich da?
Eine effektive Diabetestherapie funktioniert dort, wo sich drei Faktoren treffen: qualitativ hochwertige Medizin mit engagierten Ärzten, ein System, das diese Behandlung finanzieren kann, und die engagierte Mitarbeit der Betroffenen. Das beste Medikament nützt nichts, wenn Patienten ihren Lebensstil nicht ändern. Wir stehen hier in Österreich im internationalen Vergleich gut da, haben aber durchaus noch viel Luft nach oben, zum Beispiel beim flächendeckenden Umsetzen von hochqualitativen Diabetesschulungen für jeden Betroffenen.
Die eigenverantwortliche Mitarbeit von Betroffenen ist aber nach wie vor eine große Herausforderung. Warum gibt es hier so wenig Fortschritt?
Wir wissen alle, dass wir uns mehr bewegen sollen, dass wir naturnaher und weniger energiedicht essen sollen. Wir wissen auch, dass es besser wäre, uns auf zwei oder drei Mahlzeiten zu beschränken, ohne ständige Zwischenmahlzeiten. Aber wir beziehen es nicht immer auf uns selbst, vor allem solange wir uns (noch) gesund fühlen. Nur: Diabetes tut nicht weh und er entwickelt sich langsam, nach vielen Jahren eines ungünstigen Lebensstils. Wenn einmal Probleme da sind, ist es bereits spät.
Weiters ist es gar nicht so einfach, alles richtig zu machen: Viele Städte sind nicht darauf ausgerichtet, dass sich Menschen bewegen und günstig gesundes Essen kaufen können. Ich habe Städte erlebt, wo kaum jemand zu Fuß geht, weil es die dafür geeignete Infrastruktur gar nicht gibt oder es viel zu gefährlich wäre. Hier sind Politik, Stadt- und Raumplanung gefragt. Und welchen Stellenwert hat ein einmaliger Bio-Wochenmarkt mit teuren Produkten, wenn es dafür an jeder Ecke und ständig verfügbar kostengünstiges Fast Food gibt? Wir brauchen also die Umsetzung ganzer gesellschaftlicher Umfelder, um den Kampf gegen Diabetes wirkungsvoll führen zu können. Der erhobene Zeigefinger beim einzelnen Betroffenen ist wirkungslos, wenn die Umsetzung schwerfällt.
Gibt es neben Bewegung und Ernährung noch andere zentrale Faktoren?
Ja, es gibt eine Reihe von Faktoren, die vielleicht noch nicht so im Bewusstsein angekommen sind. Zum Beispiel haben Raucher ein zwei- bis dreifach höheres Risiko, an Diabetes zu erkranken, sogar Passivrauchen erhöht die Wahrscheinlichkeit um ein Drittel – ein weiteres starkes Argument, rauchfreie öffentliche Räume zur Normalität werden zu lassen. Wir wissen etwa auch, dass Feinstaub, chronischer Lärm und Umwelttoxine Diabetes fördern. Ein anderer Faktor ist Schlafmangel – bereits wenige Nächte mit Schlafmangel oder Schlafstörungen reichen, die Glukoseintoleranz zu verschlechtern. Und dennoch ist unser Lebens- und Arbeitsumfeld von Stress und hoher Reizüberflutung geprägt. Wiederum sind sowohl das Engagement des Einzelnen, aber auch ein gesellschaftliches Umdenken gefordert.
Welche Lösungsansätze sind in Sicht?
In der Therapie des Diabetes haben wir heute exzellente, aber nicht immer billige Medikamente. Für die systematische Betreuung aller Betroffenen gibt es Disease Management Programme, die ein weiterer Schritt in die richtige Richtung sind. Seit Kurzem arbeitet Österreich auf politischer Ebene auch an einem Aktionsplan. Laut Schätzungen der IDF wird die Diabetesprävalenz bis zum Jahr 2035 weltweit um 55 % steigen, in Europa hingegen „nur“ mehr um 22 %. Das sind zumindest positive Aussichten. Vielleicht gelingt es uns durch gemeinsame Anstrengungen sogar, den Anstieg weiter abzubremsen.
Der größte Durchbruch kam in den letzten Jahren aber durch verbesserte Therapien: Die Mortalität aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen sank um 60 %, die Wahrscheinlichkeit für schwerwiegende Folgeerkrankungen wie Erblindung, Nierenversagen oder Amputationen kann halbiert werden, die Lebensqualität kann beträchtlich gesteigert werden. Mit guter Therapie, engagierten Patienten und Ärzten und dem konsequenten Umsetzen eines gesünderen Lebensstils besteht somit berechtigte Hoffnung auf eine gute Prognose! rh