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Diagnosefehler im Fokus der Patientensicherheit

Auf Initiative der Plattform Patientensicherheit diskutierten internationale Experten in Wien kürzlich über ein vernachlässigtes wie folgenschweres Problem: Diagnosefehler und Diagnoseunsicherheit.


Eine internationale Expertenrunde diskutierte auf Einladung der Plattform Patientensicherheit über die bisher weitgehend unterschätzten Gefahren von Diagnosefehlern und -unsicherheiten sowie über wirkungsvolle Vermeidungsstrategien. Von links: Hardy Müller, M.A.; Dr. Drago Pausek; Dr. Maria Kletecka-Pulker; Dr. Brigitte Ettl; Eva-Maria Kernstock, MPH; Dr. Gerald Bachinger

Dr. Caroline Kunz, Ärztin und Psychotherapeutin

Sehr viel wurde in den vergangenen Jahren über Therapiefehler gesprochen, geforscht und entsprechende Daten erhoben. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Diagnosefehler und Diagnoseunsicherheit ist hingegen ein noch relativ junges Thema der Patientensicherheit. „Mit dieser Veranstaltung übernehmen Sie hier in Österreich eine Schrittmacherfunktion für ein wichtiges, bisher vernachlässigtes Thema, das wird auch die Diskussion in Deutschland voranbringen“, sagte etwa der Geschäftsführer des Deutschen Aktionsbündnisses Patientensicherheit Hardy Müller in Richtung der beiden Gastgeberinnen Dr. Brigitte Ettl, Präsidentin der Plattform Patientensicherheit, und Eva-Maria Kernstock, MPH, Leiterin des Bundesinstituts für Qualität im Gesundheitswesen. Auch die Ärztekammer begrüßt die sachliche Diskussion zum Thema Diagnosefehler, die nicht nur das Ziel verfolgen müsse, mögliche Vermeidungsstrategien zu entwickeln, sondern vor allem auch die Aufgabe hat, das Problembewusstsein der Ärzte zu schärfen. Dr. Herwig Lindner, Präsident der Ärztekammer Steiermark, sprach im Rahmen seines Vortrags gar von einem stattgefundenen Paradigmenwechsel in der Medizin: „Es hat sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, dass wir in der Medizin nicht alle Naturgesetze außer Kraft setzen können. Eines davon lautet: Irren ist menschlich.“ Wo gearbeitet werde, intensiv und unter großem Druck, da passieren auch Fehler. Es gehe nicht darum, diese zu negieren, sondern sie zu minimieren und richtig damit umzugehen.
Der beschriebene Paradigmenwechsel wird auch von DDr. Christian Köck, Professor für Gesundheitspolitik und Gesundheitsmanagement an der Universität Witten/Herdecke, begrüßt: „Als Mitte der 1990er-Jahre Todesfälle nach Diagnose- bzw. Behandlungsfehlern in den USA zu einer breiten internationalen Debatte um die Patientensicherheit führten, ging das an Österreich noch viele Jahre nahezu spurlos vorbei. Noch vor 15 Jahren hat die Ärztekammer das ,beste Gesundheitssystem‘ der Welt postuliert, da passten Fehler einfach nicht ins Bild. In den vergangenen Jahren hat sich aber auch hierzulande langsam ein sachlicher Diskussionsprozess entwickelt und das Thema unglaubliche Fortschritte gemacht.“ Dass sich jetzt sogar die Ärztekammer der Initiative der Plattform Patientensicherheit angeschlossen hat, deutet Köck jedenfalls als ein positives Signal.

Enormes Schadenspotenzial

Warum eine aktive Auseinandersetzung mit dem Thema so besonders wichtig ist, versuchte anschließend Prof. Dr. Norbert Pateisky, Leiter der Abteilung für klinisches Risikomanagement an der Universitätsklinik für Frauenheilkunde an der Medizinischen Universität Wien, zu verdeutlichen. „Diagnosefehler sind die häufigsten, die teuersten und die tödlichsten Fehler in der Medizin“, brachte es Pateisky auf den Punkt.
Auf Basis des bislang eher mäßig vorhandenen empirischen Datenmaterials schätzen Experten, dass etwa 10 bis 15 Prozent aller gestellten Diagnosen falsch sind. Es handelt sich dabei um das von Patienten am häufigsten thematisierte ärztliche Fehlverhalten, ergänzte Prof. Dr. Peter Gausmann, Geschäftsführer der deutschen Gesellschaft für Risikoberatung. Eine Studie über 350.000 ausjudizierte medizinische Schadensersatzklagen in den USA habe etwa gezeigt, dass nicht nur 28 Prozent aller nachgewiesenen Schadensfälle auf Diagnosefehler zurückzuführen sind, sondern diese auch überdurchschnittlich schwerwiegend waren und 35 Prozent der nachfolgenden Kosten der Versicherungswirtschaft verursacht hätten.

Menschliche und systemische Ursachen

Häufigste Ursache für Diagnosefehler und -unsicherheiten sind menschliche Limitationen. „75 Prozent der Diagnosefehler sind auf kognitive Faktoren zurückzuführen“, erläuterte Prof. Dr. Andreas Valentin, Leiter der Allgemeinen und Internistischen Intensivstation, KA Rudolfstiftung Wien. Dazu zählen etwa selektive Wahrnehmung, Verzerrungen im Denken, vorzeitige Schlussfolgerungen, persönliche Überzeugungen oder das Festhalten an Bewährtem.
Ein wichtiger erster Schritt zur Vermeidung von Fehlern müsse die aktive Auseinandersetzung der Ärzte mit diesen Faktoren sein, forderte Pateisky eine verstärkte Bewusstseinsbildung und Selbstreflexion ein. Aber auch das System müsse Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen, welche die kognitiven Faktoren zu verhindern versuchten, anstatt sie maßgeblich zu fördern. Dezidiert sprach er damit die langen Arbeitszeiten, Übermüdung, Zeitdruck, psychischen Stress und Überforderung an, die im klinischen Alltag Normalität seien.

Gegenstrategien

Anhand von nationalen und internationalen Initiativen wurden im Rahmen der Tagung auch Strategien vorgestellt und diskutiert, wie Fehler und Unsicherheiten in der Diagnose zu minimieren wären. Moderne Informationstechnologien könnten in diesem Sinn ebenso brauchbare Hilfsmittel sein wie etwa Diagnose-Checklisten, multiprofessionelle Fallbesprechungen, ein „Diagnotic Timeout“ oder Simulationstrainings für multidisziplinäre Behandlungsteams.
Patrizio Di Denia, Risk Manager an der Orthopädischen Universitätsklinik Rizzoli in Bologna, Italien, berichtete etwa über ein Projekt in seinem Haus, das die häufigsten diagnostischen Fehler detektierte und daraufhin 75 Gegenmaßnahmen implementierte. Damit sei es gelungen, die Rate der Diagnosefehler innerhalb von zwei Jahren von 12,5 auf 7,9 Prozent zu senken. Krankenhäuser müssten sich in Zukunft aber auch mit der Situation verstärkt auseinandersetzen, wie man mit Fehlern umgeht, die trotz aller Vermeidungsstrategien und Maßnahmen immer wieder passieren werden, forderte Köck. In einer Studie hat Köck mit seinem Team die Reaktion von 1.200 Patienten analysiert, die über Fehler informiert wurden. „Wenn Ärzte und Klinikleitung bei schweren Fehlern offen kommunizieren, Fehler eingestehen und den Patienten erklären, wie sie passieren konnten, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Klagen eingebracht werden, um 59 Prozent“, fasste Köck die Ergebnisse zusammen. Die Themen Kommunikation und Umgang mit Fehlern müssten in der Krankenhausorganisation daher einen viel höheren Stellenwert bekommen, als das derzeit der Fall ist.  vw

„Konstruktive Risikokultur Top-down“

Interview mit Dr. Caroline Kunz, Ärztin und Psychotherapeutin, Verfasserin der Broschüre „Wenn etwas schiefgeht. Kommunizieren und Handeln nach einem Zwischenfall“.

Wie verhält man sich als Arzt „richtig“, wenn einmal etwas schiefgeht?
Das Verhalten muss nach einem gut aufgestellten Krisenplan trainiert werden, das kann man nicht aus einem Gefühl heraus oder auf Basis einer kurzer Überlegung tun. Es darf in keinem Fall bagatellisiert, aber ebenso wenig dramatisiert werden. Am besten ist es, darzustellen, was Fakt ist und zugleich volle Unterstützung anzubieten sowie die Zusicherung einer nachfolgenden Analyse der Ereignisse zu geben. Das Gespräch sollte möglichst zeitnah und von der verursachenden Person aktiv gesucht werden. Wenn die beteiligte Person wegen zu großer Betroffenheit nicht dazu in der Lage ist, muss der Teamverantwortliche – und nur dieser – die Aufgabe übernehmen. Es ist bei solchen Gesprächen absolut auf eine diskrete Privatsphäre zu achten. Unabdingbar ist, eine Geste des Bedauerns auszusprechen.

Dürfen Ärzte aus juristischen Gründen überhaupt offen Fehler eingestehen, ohne dadurch mögliche Schadensersatzforderungen zu provozieren?
Bedauern auszudrücken heißt rechtlich nicht, einen Fehler einzugestehen. Sagen Sie bitte nicht: ‚Ich bin oder wir sind schuld‘. Wenn wir in starken Emotionen stecken, kann es zu Schuldgefühlen kommen und es kann passieren, dass wir ein solches Schuldeingeständnis machen, ohne es zu wollen. Schuldgefühle zu haben und schuldig sein, sind grundsätzlich zu unterscheiden.

Fehler können auch dazu dienen, Systemmängel aufzuzeigen und abzustellen. Gibt es dafür inzwischen brauchbare klinische Systeme, nicht um zu verurteilen, sondern um zu lernen?
Ja, die gibt es, sie werden aber noch nicht ausreichend genützt. Solange es keine grundlegende Veränderung der Fehlerkultur gibt, werden sie daher nicht wirksam sein. Menschen verhalten sich mehrheitlich systemkonform. Wenn das System also nicht auf eine konstruktive Fehlerkultur ausgerichtet ist – und damit meine ich vor allem Top-down –, dann wird es auch keine positiven Veränderungen geben können.

Download der Broschüre: www.plattformpatientensicherheit.at/download/themen/Wenn-etwas-schief-geht.pdf