Diagnose: Gewalt in der Familie
Mitarbeiter in Spitälern, aber auch niedergelassene Ärzte sind häufig erste Anlaufstelle für Betroffene und die einzigen, die Folgen häuslicher Gewalt sehen, manchmal aber auch nur erahnen können.
Allein im Bundesland Salzburg werden pro Jahr rund 1.000 Personen – davon sind etwa 900 Frauen und rund 100 Männer – aufgrund häuslicher Gewalt in den Salzburger Unikliniken behandelt. Kaum anders ist die Situation vermutlich in den anderen Bundesländern, doch die Dunkelziffer ist hoch, denn nicht jedes Gewaltopfer sucht notwendigerweise auch ärztliche Hilfe auf. Und wenn doch, liegt es am Geschick des Behandlers, auch die Zeichen zu erkennen.
Welches Verhalten ist „rechtssicher“?
Danach ist noch ein weitaus schwierigerer Schritt erforderlich, nämlich Behörden einzuschalten und das häusliche Problem „öffentlich“ zu machen. Kein Wunder, dass in Spitälern, aber auch bei den niedergelassenen Praktikern der Bedarf nach entsprechender Aufklärung und Schulung nach wie vor groß ist. Der Umstand allein ist unangenehm genug und erfordert vor allem Mut beim medizinischen Personal, denn meist sind es die Eltern und damit die Verursacher der häuslichen Gewalt, die Kinder zu ihren Behandlern bringen, oder die Ehemänner, die mit ihren misshandelten Frauen kommen. Viel Unsicherheit spielt mit und wenig klar ist, wie man sich in so einem Fall am besten richtig im Sinne von „ethisch“, aber auch im Sinne von „rechtssicher“ verhalten soll. Wie ein innovatives Fortbildungsprojekt in der SALK zeigt, ist die Schulung des medizinischen Personals in Sachen häusliche Gewalt ein wichtiger Erfolgsfaktor, um Betroffene im Gesundheitswesen zu sensibilisieren, Gewaltopfer zu erkennen und einen professionellen Umgang mit betroffenen Patienten an den Tag zu legen.
Kosten für das Gesundheitswesen
Nicht nur das persönliche Leid für die Betroffenen ist groß. Die Auswirkungen häuslicher Gewalt kosten auch den Staat und die Öffentlichkeit enorme Summen. So hat etwa das österreichische Institut für Konfliktforschung bereits im Jahr 2006 erhoben, dass die gesellschaftlichen Folgekosten von akuter Gewalt 78 Millionen Euro pro Jahr betragen. Davon entfallen 14 Millionen Euro auf das Gesundheitswesen, Langzeitfolgen noch nicht mit einberechnet.
Das Gesundheitssystem nimmt insofern eine Schlüsselrolle ein, als Menschen, die häusliche Gewalt erleben, irgendwann auch die Leistungen des Systems in Anspruch nehmen, sei es, um ihre Verletzungen zu versorgen, gesundheitliche Probleme oder chronifizierte Symptome behandeln zu lassen. Zahlen aus der Schweiz lassen jedenfalls aufhorchen, wo in einer Umfrage 90 % der Patientinnen den Wunsch äußern, doch auf die erlebte Gewalt aktiv angesprochen zu werden.
Verschwiegenheitspflicht ist Basis
Geht es um Gewalt gegen Kinder, werden die Angehörigen von Gesundheitsberufen vor besonders große Herausforderungen gestellt. Nach mehreren Todesfällen und schweren Misshandlungen gewinnt die Diskussion der Gewalt gegen Minderjährige zunehmend an Bedeutung und die Frage „Wer hätte das rechtzeitig sehen können oder müssen?“ steht fast immer im Raum. Besonders in die Kritik geraten sind Jugendämter, Gerichte und Gutachter, die selbst bei offensichtlichen Misshandlungen anscheinend zu zögerlich reagierten.
Daher haben sich bereits im Jahr 2004 in den Spitälern multiprofessionelle Kinderschutzgruppen etabliert, um eine hausinterne Vernetzung zum Thema zu erreichen. Die Zahl dieser Gruppen ist nicht normiert und variiert von Haus zu Haus, das Engagement der Teilnehmer ist freiwillig. Teil der Arbeit ist unter anderem die Vernetzung von Instanzen, die sich mit den eingebrachten Fällen auch nach dem Krankenhausaufenthalt weiter beschäftigen. „Das Vertrauensverhältnis zwischen Patienten und Behandlern ist eine Grundlage für die Behandlung. Gerade deswegen enthält die Rechtsordnung eine Vielzahl von Regelungen, die eine Verschwiegenheitspflicht normieren. Patienten müssen darauf vertrauen können, dass ihre Geheimnisse dort auch sicher sind“, erklärt Dr. Maria Kletecka-Pulker vom Institut für Ethik und Recht in der Medizin an der Medizinischen Universität Wien. Die Juristin hat in den letzten Jahren zahlreiche Kinderschutzgruppen in Krankenhäusern begleitet und weiß um die Schwierigkeit der Situation genau Bescheid.
„Da geht es nicht nur um Gesprächsführung oder Selbstreflexion, sondern auch um das Wissen, welche rechtlichen Grundlagen gelten, wie die Spurensicherung und gerichtsverwertbare Dokumentation zu handhaben sind oder welche täterbezogene Intervention erfolgen kann und wie die Kooperation mit der Polizei abläuft“, gibt Kletecka-Pulker Einblick. Im Fall der Kinderschutzarbeit kommt neben dem Geheimhaltungsinteresse auch noch der Schutz der körperlichen Integrität und Sicherheit hinzu. „Hier muss der Arzt in bestimmten Fällen die Verschwiegenheitspflicht durchbrechen und eine Meldung an das Jugendamt oder eine Anzeige an die Sicherheitsbehörde erstatten“, sagt die Expertin.
Leitfaden für Ärzte
Eine wichtige Handlungsempfehlung für Ärzte findet sich im Hamburger Leitfaden für Arztpraxen für den Umgang mit Gewalt am Kind: Im Vordergrund muss die ärztliche Versorgung und das Wohl des Patienten stehen. Eine Grenzziehung ist aber für den juristischen Laien schwierig, denn wo endet diese Versorgungspflicht und wo beginnt die Aufdeckungsarbeit? „Der § 54 Ärztegesetz schafft bei Verdacht auf Missbrauch einen gewissen Handlungsspielraum, ob die Schweigepflicht durchbrochen wird oder nicht. Das Sichern von Beweismitteln empfiehlt sich auf alle Fälle“, betont die Juristin.
Häusliche Gewalt – bei Weitem kein Nischenthema!
Internationale Studien zeigen deutlich, welche Erfahrungen Betroffene mit körperlichen, sexuellen und psychischen Übergriffen haben. Demnach erlebt etwa jede vierte Frau mindestens einmal in ihrem Leben körperliche oder sexuelle Gewalt durch ihren Partner. Rund ein Drittel hat körperliche Gewalterfahrungen unterschiedlichen Ausmaßes gemacht, und knapp die Hälfte gibt an, von psychischer Gewalt wie Einschüchterungen, Drohungen, Demütigungen bis hin zum Psychoterror betroffen zu sein. Häusliche Gewalt betrifft längst nicht nur Frauen, sondern alle Menschen, die in einem Haushalt zusammenleben: Es betrifft Kinder, Geschwister, Eltern oder auch ältere, pflegebedürftige Menschen.