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Demenz gestern – heute – morgen

Das 20. Jahrhundert ist durch eine ständige Zunahme der Lebenserwartung charakterisiert, die vor allem auf eine bessere Ernährung sowie auf die Fortschritte in Hygiene und Medizin zurückzuführen ist. Damit verbunden ist jedoch auch eine Zunahme von „Alterserkrankungen“ wie etwa Demenz.


Univ.-Doz. Dr. Gerald Gatterer

Autor: Univ.-Doz. Dr. Gerald Gatterer
Klinischer Psychologe, Psychotherapeut, Akademischer Health Care Manager
Schlossmühlgasse 22
2351 Wiener Neudorf

Im Rahmen des normalen Alterungsprozesses kommt es zu einer leichten Abnahme der sogenannten „Speed-Funktionen“ wie Geschwindigkeit der Denkabläufe, Neulernen, Flexibilität oder Plastizität. Die „Power-Funktionen“ wie etwa Altgedächtnis, Automatismen oder Aktivitäten des täglichen Lebens sind davon aber nicht betroffen. Eine Demenz ist von diesen im Rahmen des normalen Alterungsprozesses auftretenden Veränderungen der geistigen Leistungen dadurch zu unterscheiden, dass die Symptome stärker ausgeprägt sind, auch die Alltagsfähigkeiten betreffen und oft fortschreiten. Unter einer Demenz versteht man insofern nach dem Diagnosesystem ICD-10 einen Zustand, bei dem es durch eine hirnorganische Ursache zu so starken Veränderungen des Gedächtnisses und anderer geistiger Funktionen kommt, dass eine selbstständige Lebensführung beeinträchtigt ist. Das Syndrom muss weiters über sechs Monate bestehen. Oft ist auch die Persönlichkeit mitbetroffen. Nach Angaben im Österreichischen Demenzbericht sind hierzulande derzeit geschätzt etwa 130.000 Menschen betroffen.

Neurokognitive Störung

Im neuen Diagnosesystem DSM-5 der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA) spricht man anstelle einer „Demenz“ von Menschen mit einer „neurokognitiven Störung“. Diese wird als leicht bezeichnet, wenn die kognitiven Defizite in der Aufmerksamkeit, der Sprache, dem Lernen, dem Gedächtnis, den Exekutivfunktionen und den visuokonstruktiven und sozialen Funktionen keine Beeinträchtigung der Alltagsfunktionen zur Folge haben. Von einer schweren Störung spricht man, wenn Unterstützungsmaßnahmen notwendig sind, um den Alltag zu bewältigen. Die Erfassung der Defizite soll durch standardisierte neuropsychologische Tests erfolgen. Die Ursachen wie zum Beispiel Alzheimersche Krankheit, frontotemporal, vaskulär, aufgrund von Schädel-Hirn-Trauma oder substanz-/medikationsinduziert werden einzeln aufgelistet und vermerkt. Weiters wird das Vorhandensein von Verhaltensstörungen wie Wahn oder Halluzinationen als weitere Spezifizierung vermerkt. Die „neurokognitive Störung“ wird vom Delir als kurzfristige Beeinträchtigung der kognitiven Leistungsfähigkeit unterschieden.
Die neue Ausdifferenzierung kognitiver Funktionen im DSM-5 entspricht dem wissenschaftlichen Fortschritt: So werden aufgrund der gewachsenen Bedeutung frontotemporaler Neurokognitiver Defizite (Demenzen) die Domänen Sprache und soziale Kognition – vor allem Empathie – expliziert; aufgrund der gewachsenen Bedeutung vaskulärer Ursachenformen werden komplexe Aufmerksamkeitsfunktionen und ihre Teilfunktionen als neue, diagnostisch relevante Domänen eingeführt.

Ursachen und Risikofaktoren

Wie bereits dargestellt, sind die Ursachen der Demenz vielfältig, wobei die Alzheimersche Krankheit mit etwa 60 bis 70 % und vaskuläre Ursachen mit etwa 20 % die Hauptursachen darstellen. Auch übermäßiger Alkoholkonsum, andere Erkrankungen des Gehirns oder Kopfverletzungen können das Zustandsbild einer Demenz bewirken. Die Ursachen der Alzheimerschen Erkrankung als häufigste Ursache einer Demenz sind noch nicht völlig geklärt. Diskutiert werden in etwa 10 % genetische Faktoren, aber auch der Lebensstil und andere Ursachen. Dabei kommt es zu einem Abbau von Nervenzellen im Gehirn, die ab einer gewissen Menge zu so starken Funktionsdefiziten führen, dass das Zustandsbild einer Demenz vorliegt. Weiters sind verschiedene biochemische Prozesse verändert und der Neurotransmitter Acetylcholin vermindert. Die Alzheimersche Krankheit hat ihren Beginn wahrscheinlich schon viele Jahre vor den ersten Symptomen. Als weitere Risikofaktoren für eine Demenzentwicklung gelten Bluthochdruck, Rauchen und Diabetes, erhöhte Blutfette, Alkoholismus, geringe Schulbildung und Ausbildung, geringe geistige, körperliche und soziale Aktivität und schwere, nicht gut behandelte Depressionen. Insofern spielt auch Prävention eine wesentliche Rolle. Die meisten betroffenen Menschen sind dabei über 75 Jahre alt. So beträgt der Anteil von Menschen mit Demenz in der Gruppe der 60-Jährigen etwa 1 % und steigt bei der Gruppe der über 85-Jährigen auf 25 bis 30 % – je nach Berechnungsart – an. Der Schweregrad ist dabei unterschiedlich und reicht von ganz leichten Symptomen, die von der „normalen Altersvergesslichkeit“ schwer zu unterscheiden sind, bis zu Menschen mit schweren Beeinträchtigungen, die intensive Betreuung benötigen.
Wesentlich ist eine frühzeitige Diagnostik, die sowohl eine medizinische als auch testpsychologische Untersuchungen beinhaltet und völlig ungefährlich ist. Eine frühzeitige Diagnose ermöglicht auch eine frühzeitige Behandlung und oft liegen ganz andere Ursachen für ein schlechtes Gedächtnis vor als eine Demenzerkrankung, die gut behandelbar sind. Dies wird in sogenannten Memory-Kliniken durchgeführt. Die Diagnostik besteht in einer ausführlichen Anamnese, der Durchführung klinisch-psychologischer Tests sowie einer internistischen, neurologischen und psychiatrischen Abklärung inklusive Bildgebung.
Bei der Anamnese stehen Beginn und Verlauf der Erkrankung im Vordergrund, ebenfalls die Abklärung von Risikofaktoren wie erhöhter Blutdruck, Diabetes, erhöhte Blutfette und Übergewicht, Depressionen, Rauchen und der Lebensstil. Bei der psychologischen Diagnostik haben sich als Screening-Verfahren der Mini-Mental-Status und der Uhrentest in Kombination mit der Geriatrischen Depressionsskala durchgesetzt. Sensitivere neuropsychologische Verfahren sind etwa die MMSE-2, der Moca-Test, die SLUMS oder die CERAD. Ergänzt wird die kognitive Diagnostik durch eine Abklärung der Depression zum Beispiel mittels geriatrischer Depressionsskala (GDS) und einer Fremdbeurteilung.

Vier Säulen der Therapie

Die Betreuung und Therapie von Menschen mit Demenzerkrankung fußt auf vier Pfeilern und zwar auf biologischen (medizinische Maßnahmen, Pflege, Therapie), psychologisch/psychotherapeutischen und sozialen Maßnahmen sowie der Veränderung bzw. Anpassung der Umgebungsbedingungen. Ziel ist einerseits ein möglichst langes Erhaltenbleiben bzw. eine Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit und Selbstständigkeit, andererseits aber auch eine Verbesserung des Wohlbefindens, der Lebensqualität und sozialen Integration. Die Therapie ist entsprechend der Grunderkrankung zu wählen, wobei präventive Maßnahmen derzeit als wesentlich angesehen werden. Hier werden körperliches und geistiges Training (Speed-Funktionen: Gedächtnistraining, Konzentration, neues Lernen), ein positiver und gesunder Lebensstil, soziale Kontakte und die Behandlung der Risikofaktoren empfohlen. Auch Nahrungsmittelergänzungsprodukte können hilfreich sein. Dadurch kann man zwar die Demenzerkrankung nicht verhindern, jedoch ihren Verlauf positiv beeinflussen.
Die medikamentösen Maßnahmen bei bestehender Demenz beziehen sich ebenfalls auf die Grunderkrankung, wobei Antidementiva bei der Alzheimerschen Erkrankung (Cholinesterasehemmer, Memantine) sowie Gingko Biloba zum Einsatz kommen. Bei der Demenz vom Alzheimertyp wird derzeit auch an einer Impfung gearbeitet. Psychologische Maßnahmen beziehen sich auf Gespräche zur Krankheitsbewältigung, Psychotherapie und kognitives Training, der Schulung, Begleitung und Unterstützung der Helfer und Angehörigen und Umweltgestaltungsmaßnahmen, zum Beispiel Wohnraumadaptierung oder Assistenzsysteme. Das Vorgehen ist dabei entsprechend dem Schweregrad zu wählen. Vor allem Assistenzsysteme und Umweltgestaltungsmaßnahmen sind gerade bei Menschen mit schwerer Demenz in letzter Zeit in den Fokus der Betrachtung gerückt. Ein neues Projekt der Umweltgestaltung stellt das „Alzheimerdorf-Hogeweyk“ in den Niederlanden dar. Hier können Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz ihre Grundbedürfnisse soweit als möglich weiter leben. Es gibt Straßen und Plätze, ein Einkaufszentrum oder Fitnessstudios, die Normalität, aber auch Sicherheit und Geborgenheit bieten.

Bedürfnisorientierte Modelle

Ein ebenfalls neuer Ansatz bei der Betreuung von Menschen mit fortgeschrittener Demenz sind bedürfnisorientierte Modelle. Bei diesen steht nicht die „Demenz“ mit ihren Symptomen als Störung und Krankheit im Vordergrund, sondern der Mensch mit seinen Bedürfnissen, die sich im Rahmen der Demenz verändern, aber trotzdem Bedürfnisse sind. Ziel ist es deshalb, diese Bedürfnisse zu erfassen und in die Betreuung zu integrieren. Dadurch ist es auch leichter möglich, „Verhaltensstörungen“ zu verhindern. Dazu gehört eine kritische Reflexion von „Pathologien“, um Ressourcen zu erhalten und Menschen mit Demenz im Leben zu inkludieren. So kann etwa das Bedürfnis nach Nähe durch Tiertherapie bzw. die Therapierobbe „Paro“ abgedeckt werden. Auch eine Puppe oder ein Kuscheltier kann hier therapeutisch eingesetzt werden. Beim zusätzlichen Bedürfnis nach Sexualität – wenn zum Beispiel ein Mann Mitbewohnerinnen belästigt – kann auch eine Sexualassistentin beigezogen werden bzw. ist der Besuch bei einer Prostituierten nicht ausgeschlossen. Oft muss hierbei jedoch auf das Grundbedürfnis nach Nähe mehr eingegangen werden als auf die reine Sexualität, wie Sexualassistentin Nina de Vries betont.
Ziel aller dieser modernen Maßnahmen ist die Inklusion von Menschen mit Demenz im Alltag. Dadurch werden sie nicht nur körperlich, sondern auch seelisch, geistig und sozial am Leben erhalten. Ziel ist „Leben mit Demenz“!