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Darmkrebs-Screening – Vorteile für Gesundheit und Budget

Die Österreichische Ärztekammer hat eine Studie in Auftrag gegeben, die den potenziellen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Nutzen eines österreichweiten Dickdarmkrebs-Screening-Programms belegt.


Dr. Johannes Steinhart, Obmann der Bundeskurie niedergelassene Ärzte und Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer. Dr. Michael Jonas, Präsident der Ärztekammer für Vorarlberg, Facharzt für Gastroenterologie und Hepatologie. Fotos: ÖÄK / Bernhard Noll

Basis für die wissenschaftlich-ökonomische Studie, die von der Österreichischen Ärztekammer beim Wiener Institut Agnes Streissler – Wirtschaftspolitische Projektberatung beauftragt wurde, ist das in Vorarlberg seit 2007 erfolgreich durchgeführte Darmkrebs-Vorsorgeprogramm. „Dickdarmkrebs zählt zu den häufigsten und gefährlichsten Krebserkrankungen in den Industrienationen. Jedes Jahr erkranken in Österreich bis zu 5.133 Menschen daran“, stellt der Präsident der Ärztekammer für Vorarlberg und Facharzt für Gastroenterologie und Hepatologie, Dr. Michael Jonas, fest. „Vor Einführung der Darmkrebs-Vorsorgeuntersuchung mittels Darmspiegelung ist jeder zweite Neuerkrankte an den Folgen gestorben.“ Ziel der Koloskopie ist es, Darmkrebs in einem Frühstadium zu entdecken und zu behandeln oder die Entstehung zu verhindern.

Kosten-Nutzen-Rechnung

Zwischen Februar 2007 und Dezember 2015 wurde in Vorarlberg bei 30.501 Personen eine qualitätsgesicherte Vorsorge-Koloskopie durchgeführt, also bei mehr als einem Viertel (26,2 Prozent) der Zielgruppe der über 50-Jährigen. Bundesweit wurden in diesem Zeitraum nur 6,7 Prozent der Zielbevölkerung erreicht. Berücksichtigt man auch die nicht evaluierten Vorsorge-Koloskopien, so waren es maximal 14 Prozent.
Die medizinische Bilanz: Bei 1,3 Prozent der Personen wurde Darmkrebs im Vorstadium erkannt und therapiert. Bei 109 Untersuchten wurde Darmkrebs in einem frühen Stadium erkannt und operiert. Bei 28 Patienten war zusätzlich eine Chemotherapie erforderlich und in 13 Fällen gab es bereits Metastasen.
„Die investierten Kosten rechnen sich um ein Vielfaches. Jeder Fall von Darmkrebs mit Metastasierung verursacht Kosten in Höhe von etwa 235.700 Euro. Unter Berücksichtigung sämtlicher volkswirtschaftlicher Faktoren bedeutet das für Vorarlberg eine Kostenersparnis von rund 70 Millionen Euro innerhalb von zehn Jahren“, rechnet Jonas vor.

Einsparpotenziale bei Dickdarmkrebs

In der aktuellen Studie der Österreichischen Ärztekammer werden auf Basis der Ergebnisse aus Vorarlberg zwei Szenarien verglichen und auf ganz Österreich hochgerechnet: die Kostenentwicklung unter der Annahme, es gäbe kein Darmkrebs-Vorsorgeprogramm, und die Gesamtkosten bei einem existierenden Vorsorge-Koloskopie-Programm, bei dem jedes Jahr drei Prozent der über 50-Jährigen erfasst würden. Analysiert wurden nicht nur die direkten Auswirkungen einer Therapie, also die Kosten medizinischer Interventionen, sondern auch indirekte gesamtwirtschaftliche bzw. gesellschaftliche Kosten: zum Beispiel Produktivitätsausfälle infolge von Krankheit oder vorzeitigen Todesfällen, die Belastung für Angehörige sowie die Einschränkung der Lebensqualität der Betroffenen. Die ebenfalls erfolgte Berücksichtigung ökonomisch bewerteter Lebensjahre, eine heute übliche Berechnungsmethode, wird als „Zahlungsbereitschaftsansatz“ bezeichnet.

Hohe Gesundheits- und Pflegekosten

Die Ergebnisse sind durchaus überzeugend: Ein österreichweites Koloskopie-Programm würde bereits nach zehn Jahren die jährliche Prävalenz von Patienten mit der Diagnose Darmkrebs in einem fortgeschrittenen Stadium um fast 1.600 verringern. Nach zehn Jahren würden zwischen 2.800 und 5.000 Frühpensionierungen infolge von Darmkrebs verhindert worden sein. Im zehnten Jahr würden sich die Kosten der Koloskopie selbst auf 33 Millionen Euro belaufen – dies unter Zugrundelegung eines betriebswirtschaftlich kalkulierten Tarifs inklusive der Kosten für allfällige Komplikationen und Qualitätssicherung.
Die Gesundheitskosten von im Zuge der Koloskopie entdeckten Diagnosen sowie von Diagnosen in den Jahren nach der Koloskopie würden weitere 25 Millionen betragen. Im Vergleich dazu lägen die Gesundheits- und Pflegekosten der nicht koloskopierten Vergleichsgruppe im zehnten Jahr bei 157 Millionen Euro, also um 98 Millionen Euro mehr pro Jahr. Betrachtet
man die Gruppe der 50- bis 65-Jährigen, so entstünden durch Darmkrebserkrankungen bei der koloskopierten Zielgruppe jährliche Verluste des Erwerbs­potenzials von 14 Millionen Euro. Bei der nicht kolo-
skopierten Vergleichsgruppe wären es 79 Millionen Euro.

Volkswirtschaftlicher Nutzen

„Zusammengefasst beträgt der volkswirtschaftliche Nutzen eines Koloskopie-Programms nach zehn Jahren, berechnet nach dem Humankapitalansatz, zwischen 736 Millionen und 1,3 Milliarden Euro, davon 36 Prozent Einsparung im Gesundheitsbereich, das sind 265 bis 468 Millionen Euro“, bilanziert Jonas. Berechnet nach dem Zahlungsbereitschaftsansatz, der auch ökonomisch bewertete Lebensjahre berücksichtigt, liege das Einsparungspotenzial bei drei bis 4,5 Milliarden Euro, davon 27 Prozent Einsparung im Gesundheitsbereich, also 810 Millionen bis 1,2 Milliarden Euro.
„Diese sensationellen medizinischen und volkswirtschaftlichen Ergebnisse zeigen, wie dringend notwendig es ist, ein Darmkrebs-Screening österreichweit zu implementieren“, bekräftigt auch Dr. Johannes Steinhart, Obmann der Bundeskurie niedergelassene Ärzte und Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer.

Vorsorge- und Früherkennungsmedizin sanieren

Einen weiteren „Sanierungsfall“ in Sachen Vorsorge und Früherkennung ortet Steinhart im Mutter-Kind-Pass. Er ist seit 1974 eingeführt und bewährt, aber seit 2010 ausgelaufen. Das Ludwig Boltzmann Institut für Health Technology Assessment wurde mit einer Evaluation des Mutter-Kind-Passes beauftragt und hat eine Facharbeitsgruppe für Weiterentwicklung des Mutter-Kind-Passes eingesetzt, die über mehrere Jahre tagen soll. „Hier herrscht Stillstand, es werden keine neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse in den Mutter-Kind-Pass integriert“, kritisiert Steinhart.
Das Brustkrebs-Screening wurde 2014 eingeführt, aber durch eine veränderte Einladungspolitik sind Rückgänge bei den Untersuchungen von etwa 40 Prozent zu verzeichnen. Seit Einführung des Programms hat sich die Zahl der Mammografien pro Jahr um 15 Prozent reduziert. „Das Brustkrebs-Screening wurde von einem Früherkennungsprogramm zu einem Kostensenkungsprogramm zurechtmanipuliert. Weil sich die Erwartungen nicht erfüllt haben, muss das Programm dringend optimiert werden, damit Frauen keinen Schaden nehmen“, so Steinharts Zwischenbilanz. rh