< vorhergehender Beitrag

Blicke in die Innere Welt

Dr. Hemma Rössler-Schülein ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychoanalytikerin. Die Vorsitzende der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung gibt im Wordrap Einblick in die Motive, die sie für dieses Fach begeistern.


Foto: ZVG

Für die Psychiatrie habe ich mich entschieden, weil … dieses Fach die Möglichkeit bietet, vor allem durch Sprechen medizinisch arbeiten zu können, an den Schnittstellen zwischen Geist und Körper, Individuum und Umfeld. Besonders angesprochen haben mich auch die Entwicklungen von einem kustodialen, diagnosebezogenen Spartendenken hin zu einer neuen Psychiatrie mit Therapeutischen Gemeinschaften als Vorbild für eine respektvolle, integrative Behandlung. Diese Erneuerungen  haben  damals auch in der Akutpsychiatrie Einzug gehalten. Diese Errungenschaften sind immer wieder in Gefahr und müssen – wie die Demokratie – immer wieder erneuert werden.

Psychoanalytische/psychotherapeutische Methoden, die mir ein besonderes Anliegen sind, sind … die hochfrequente Psychoanalyse und die psychoanalytisch orientierte Psychotherapie. Die Psychoanalyse ermöglicht eine intensive Auseinandersetzung mit der Inneren Welt und erarbeitet so die Fähigkeit zu sehen, wie man ist, und damit umzugehen. Unbewusste und unkontrollierte Ängste und Konflikte inszenieren sich immer wieder aufs Neue in aktuellen Situationen. Im Laufe der Analyse ist es meist möglich, diesen Automatismus aufzubrechen und durch schrittweise Umwandlungen und Bearbeitungen weniger einschränkende Möglichkeiten der Auseinandersetzung finden. Bei der psychoanalytischen Psychotherapie ist es vor allem die Behandlung einer eingegrenzten Problemstellung und bessere Kontrolle von selbstzerstörerischem Verhalten, die nachhaltig zu Symptomrückgang und besserer Belastbarkeit führt.

Die entscheidendsten Entwicklungen meines Fachgebietes in den letzten zehn Jahren waren, dass … die nachhaltigen Effekte von psychoanalytischen, psychotherapeutischen Behandlungen eindeutig durch Langzeit-Katamnese-Studien nachgewiesen werden konnten. Weithin bekannt ist, dass die Psychoanalyse für das Verständnis des emotionalen Erlebens von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen wesentliche Beiträge liefert. Weniger geläufig ist die Tatsache, dass sich psychoanalytische Langzeitbehandlungen auch gesundheitsökonomisch rechnen, da die durch sie erzielten Einsparungen bereits drei Jahre nach Behandlungsende größer als die Behandlungskosten sind.

Für die nächsten zehn Jahre erwarte ich dass, … die gesellschaftlichen Veränderungen auch und geraden in unserer Disziplin ihren Niederschlag finden. Daher ist mit einer noch weitergehenden Auseinandersetzung mit den Themata Trauma, transkulturelle Psychiatrie, Kinder-, Jugend- und Gerontopsychiatrie und -psychotherapie zu rechnen All diese Bereiche werden uns weiter vor große Herausforderungen stellen und von uns allen – Psychiatern und Psychotherapeuten – besonderes Engagement und Expertise verlangen.

Was mich in der Psychiatrie bzw. in der Psychotherapie besonders fasziniert ist … die Möglichkeit, interessiert und neugierig sein zu können und überrascht zu werden. Diese Behandlungsformen erfordern die Fähigkeit, sehr persönliche Lösungen zu erarbeiten. Ein weiterer Anreiz für diese Tätigkeit ist die transgenerative Weitergabe von psychischem Leid so weit als möglich hintanzuhalten. Dies kann durch verschiedene Behandlungsformen und Interventionen passieren, dazu können aber auch Eltern-Kleinkindtherapien einen wesentlichen Beitrag leisten.

Die Wiener Psychoanalytische Vereinigung (WPV) ist … wichtig. Ich bin sehr dankbar und auch stolz, Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung zu sein, in ihrer Tradition zu stehen – mit ihren gewaltsamen Brüchen, ihren Schwierigkeiten und auch ihren Leistungen über so einen langen Zeitraum hinweg. Es würde die Psychoanalyse in dieser Form nicht mehr geben ohne die vor über 100 Jahren geschaffenen und im Falle der WPV vor 70 Jahren wiedergegründeten Einrichtungen.

Was ich in der psychiatrischen Ausbildung vermisse, … sind Raum und Zeit, um mit den Patienten ausführlich und wiederholt sprechen zu können. Leider mangelt es ja vielerorts an den fachärztlichen personellen Ausstattungen der Abteilungen. So entsteht auch leicht ein Mangel an der notwendigen fachlichen Reflexion und Evaluation der klinischen Tätigkeit. Ebenso sollten Erfahrungen im niedergelassenen Bereich noch mehr in die Ausbildung integriert werden, genauso wie Tätigkeiten im interdisziplinären und konsiliarischen Bereich. Im Laufe meiner Karriere habe ich das Glück gehabt, zur richtigen Zeit auf förderliche Umstände zu treffen, die meinen Interessen entgegengekommen sind. Als Absolventin eines Jahrgangs, in dem jahrelange Wartezeiten auf einen Turnusplatz und un- oder unterbezahlte postpromotionelle Tätigkeiten üblich waren, war das keineswegs selbstverständlich. Die Facharztausbildung in der ersten Abteilung, die in Wien in ein Allgemeinkrankenhaus integriert worden war, hat mich mit einem großen Schatz an klinischen Erfahrungen versorgt.  

In der interdisziplinären Zusammenarbeit würde ich mir wünschen, … dass die Bereitschaft, von den Nachbardisziplinen zu lernen, noch weiter zunimmt. Vernetzungen und Kooperationen können im Einzelfall oft langwierig und/oder mühsam sein und gerne wird bei schwierigen Fällen dem anderen das Versagen zugeschrieben. Dennoch lohnt sich der Aufwand und ich denke mir, dass das Fach Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin da durchaus auch mit mehr Selbstbewusstsein auftreten kann.

Für das österreichische Gesundheitswesen würde ich mir wünschen, dass … die Kompetenz der Ärzte, Indikationen zu stellen und Verantwortung zu übernehmen, gefördert, gefordert und respektiert wird. Notwendigerweise muss ein allzu engstirniges Beharren auf föderalistische Einflussnahmen zurückgedrängt werden. Aber unter dem angeblichen Druck der Ökonomie drohen viele Errungenschaften wie ambulante und stationäre Langzeitpsychotherapie verloren zu gehen, ebenso wie eine angemessene Versorgung von chronisch oder komplex psychisch Kranken.

Ausgleich zu meiner beruflichen Tätigkeit finde ich … in einem entspannten Privatleben. Wie für alle Ärzte gilt auch für mich, dass der Umgang mit Unbehagen und seelischen Schmerzen uns an die Grenzen der Belastbarkeit bringen kann, sodass Reflexion und Regeneration dringend nötig sind, gut geplant und sorgsam gepflegt werden
müssen.    bw

Hemma Rössler-Schülein wurde in Wien geboren, wo sie auch ihr Medizinstudium absolvierte. 1996 schloss sie den Facharzt für Psychiatrie und Neurologie am Kaiser Franz Josef Spital ab, 2007 folgte der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin. Seit 1996 ist Rössler-Schülein in freier Praxis und am Wiener Psychoanalytischen Ambulatorium tätig. Ab 2009 war sie Ärztliche Leiterin am Wiener Psychoanalytischen Ambulatorium, seit 2016 ist sie Vorsitzende der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Rössler-Schülein ist seit 1993 Gruppentherapeutin (ÖAGG) und seit 1995 als Psychotherapeutin eingetragen. 1999 folgte der Abschluss der Psychoanalyse-Ausbildung der Wiener psychoanalytischen Vereinigung WPV und IPV. Seit 2005 ist die engagierte Psychiaterin und Psychoanalytikerin Ordentliches Mitglied der WPV, 2006 absolvierte sie die Ausbildung „Transference Focused Psychotherapy“ bei Otto Kernberg, New York. Seit 2010 arbeitet sie zudem als Lehranalytikerin der WPV. Zahlreiche Studien und Veröffentlichungen aus dem Bereich der Psychotherapieforschung, der psychoanalytischen Klinik und Theoriebildung tragen ihre Autorenschaft.
www.wpv.at