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BEST of BEST: OGH-Urteile 2016

Der Oberste Gerichtshof entscheidet mehrere Tausend Fälle im Jahr. Viele davon haben richtungsweisende Bedeutung in Zivil- und in Strafsachen – auch in der Medizin.


Autoren:
DDr. Karina Hellbert, LL.M.,
Mag. Paul Kessler, LL.M. FIEBINGER POLAK LEON RECHTSANWÄLTE
Tel.: 01/58258, p.kessler(at)fplp.at, k.hellbert(at)fplp.at, www.fplp.at

Untersagung der ärztlichen Berufsausübung bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Strafverfahrens
VwGH Ro 2014/11/0055
Ein gegen einen Arzt eingeleitetes Strafverfahren wegen Verdachts des gewerbsmäßigen Betruges (hier: wegen unrechtmäßiger Verrechnung von Leistungen gegenüber der Gebietskrankenkassa) muss die vorläufige Untersagung der ärztlichen Berufsausübung bis zum rechtskräftigen Abschluss des strafgerichtlichen Verfahrens nach sich ziehen. Dabei kommt der Behörde kein Ermessen zu.

Berücksichtigung von Wartezeiten trotz Kassenplanstelle im Rahmen der Reihungskriterien
OGH 1 Ob 176/15m
Einen „Besetzungskampf“ für eine Kassenplanstelle führt ein Frauenarzt gegen die Wiener Ärztekammer und die Wiener Gebietskrankenkasse. Der Arzt hat eine Kassenplanstelle in Oberösterreich und bewarb sich für eine Planstelle in Wien. Da der Arzt bereits eine Kassenplanstelle innehat, wurden ihm entsprechend der Reihungskriterien-Verordnung keine Punkte für Wartezeit zugesprochen. Diese Regelung bekämpfte der Arzt und der OGH gab ihm Recht: Es ist sachlich nicht gerechtfertigt, dass Punkte für Wartezeiten vergeben werden, wenn überhaupt keine ärztliche Tätigkeit ausgeübt wird, während Bewerber, die als Kassenärzte tätig sind und somit Erfahrung sammeln, keine Punkte zugesprochen bekommen. Es ist daher fortan möglich, auch als Kassenarzt wieder Punkte für Wartezeit zu sammeln und sich zu gegebenem Zeitpunkt für eine andere oder „attraktivere“ Kassenplanstelle zu bewerben. Ob damit der Versorgungssicherheit, gerade in ländlichen Gebieten, Rechnung getragen wird, bleibt zu hinterfragen.

Kontrollpflicht des Arztes bei magistraler Zubereitung
OGH 4 Ob 42/16d
Die Klägerin wurde im Zuge einer Lokalanästhesie von einem HNO-Arzt an ihrer Nasenschleimhaut verätzt, weil die als Anästhetikum verwendete Pantocain-Lösung vom Apotheker statt mit destilliertem Wasser zu 96 % mit Alkohol hergestellt wurde. Der Hinweis, dass es sich um eine Alkohollösung in hoher Konzentration handelt, wurde in etwa 1,6 mm großer Schrift auf die Flasche gedruckt. Diesen Hinweis hat der Arzt – wohl im Vertrauen auf die richtige Herstellung durch den Apotheker – jedoch nicht gelesen. Der Apotheker hatte den Arzt seit 2009 stets mit korrekt hergestellten Pantocain-Lösungen beliefert.
Die Vorinstanzen wiesen die Klage gegen den Arzt mit der Begründung ab, dass der Sorgfaltsmaßstab des Arztes nicht die Pflicht zur Prüfung der korrekten Herstellung eines seit Jahren von einer Apotheke ohne Beanstandung magistral zubereiteten Arzneimittels umfasse.
Der OGH hob die Entscheidung der Vorinstanzen auf und verurteilte den Arzt zur Zahlung von Schmerzensgeld. Das Gericht stützt sich dabei auf die Apothekenbetriebsordnung (ABO 2005), die Sicherheitsvorkehrungen für die Herstellung und Anwendung von Arzneimitteln regelt. Bei der Beschriftung des Arzneimittels fordert § 22 ABO 2005, dass dem Anwender alle notwendigen Informationen zur Verfügung gestellt werden (müssen). Dies dient – laut Gesetzgeber – auch dem Abbau von Risiken bei der Anwendung von Arzneimitteln. Auf Basis dieser rechtlichen Gegebenheiten trifft den Arzt daher die Pflicht, vor der erstmaligen Anwendung eines Arzneimittels dessen Zusammensetzung zu prüfen, weil sich die Beschriftung des Arzneimittels an den Anwender richtet.
Prüft der Arzt somit vor der Anwendung des Arzneimittels das Etikett nicht, so verstößt er gegen seine ärztliche Sorgfaltspflicht und hat für den dadurch verursachten Schaden einzustehen. Der vom Arzt (als Sachverständigen im Sinne des § 1299 ABGB) einzuhaltende Sorgfaltsmaßstab wird durch die typischen und objektiv bestimmten Fähigkeiten eines Angehörigen des betreffenden Verkehrskreises bestimmt. Einem „typischen Arzt“ ist es leicht möglich, die korrekte Zusammensetzung des Arzneimittels mit seiner Verschreibung zu vergleichen. Dies überspannt auch nicht seine Sorgfaltspflichten, so der OGH.

Rechtzeitigkeit der Aufklärung bei medizinisch nicht dringlichen Eingriffen
OGH 1 Ob 252/15p
Ein Arzt operierte den Kläger lege artis an der Hüfte, wobei der Eingriff nicht dringlich war. Postoperativ litt der Kläger unter erheblichen Schmerzen. Für diese Schmerzen begehrte der Kläger Schmerzensgeld, weil er nicht rechtzeitig über die Operationsrisiken aufgeklärt wurde. Das Gericht stellte fest, dass die Operation 18 Stunden nach der erstmaligen Aufklärung stattfand. Da der Eingriff nicht dringlich war, war die dem Kläger gewährte Überlegungsfrist von nicht einmal einem Tag zu kurz. Eine rechtswirksame Einwilligung kam daher nicht zustande.
Diese Entscheidung (die noch nicht rechtskräftig über die Haftung des Arztes absprach) zeigt abermals, dass neben Art, Inhalt und Umfang der Aufklärung auch dem Überlegungszeitraum für eine rechtsgültige Einwilligung maßgebliche Bedeutung zukommt. Im Fall einer herkömmlichen Hüftgelenksoperation wurde die Aufklärung am Tag vor der Operation als rechtzeitig eingestuft, weil sich die Patientin nach einer zweitätigen Bedenkzeit für eine rund vierzehn Tage später erfolgte Operation entschied (7 Ob 64/11d). Der bloße nochmalige Hinweis auf dem Weg zum Operationssaal auf die Irreversibilität einer Eileiterunterbindung war deshalb ausreichend, weil die Aufklärung der Patientin vier Wochen vor dem nicht medizinisch indizierten Eingriff stattfand (8 Ob 140/06f). Zu kurz ist die Bedenkzeit, wenn die Aufklärung über die Gefahr einer Narkose stattfindet, wenn schon alle Vorbereitungen für die Narkose getroffen sind und der Narkosearzt bereitsteht (7 Ob 15/04p). Ist die Bedenkzeit zu kurz, haftet der Arzt auch für die Folgen einer lege artis durchgeführten Operation.
Die höchstgerichtliche Judikatur in Österreich und Deutschland trifft keine einheitlichen Aussagen darüber, wie lange die Überlegungszeit jeweils bei den verschiedenen Eingriffen sein muss, betont aber, dass außerhalb von ästhetischen Operationen (bei denen die gesetzlich geregelte Überlegungszeit von zumindest zwei Wochen eingehalten werden muss) die Rechtzeitigkeit der Aufklärung von der Indikation, Schwere und Dringlichkeit der Operation abhängt. Je schwerwiegender die Operation ist, desto länger muss die Bedenkzeit sein. Je medizinisch indizierter die Operation, desto kürzer darf die Bedenkzeit sein. Bei schwerwiegenden nicht akut medizinisch indizierten Operationen wird eine dreitägige Überlegungszeit als angemessen beurteilt.

Rechtsgrundlagen für hygienische Anforderungen an Ordinationen
LVwG Wien, VGW-101/079/11853/2015
Ein besonders brisanter Fall beschäftigte das Landesverwaltungsgericht („LVwG“) Wien. Die Magistratsabteilung 40 beanstandete bei einem niedergelassenen Facharzt in Wien diverse Hygienemängel. Die Mängel seien deshalb beanstandungswürdig, weil die MA 15 (Gesundheitsdienst der Stadt Wien) als Gutachter festhielt, dass die Ordinationsabläufe nicht der Richtlinie 29 des Arbeitskreises für Hygiene in Gesundheitseinrichtungen entsprachen. Das Nichteinhalten dieser Richtlinie würde einen Hygiene-mangel im Sinne des Gesetzes darstellen. Dem erteilte das LVwG Wien in doppelter Hinsicht eine Absage. Erstens ist die MA 15 kein Gutachter im Sinne des Verwaltungsrechts, weil Gutachter nur natürliche Personen sein können. Zweitens – und wesentlich – darf die Behörde keine Ausführungen eines Fachkreises übernehmen, ohne näher darauf einzugehen, auf welcher Rechtsgrundlage der Fachkreis eingerichtet ist, ob das Tätigkeitwerden des Fachkreises juristisch begründet ist und ob dessen Ausführungen überhaupt rechtlich verbindlich sind. Ein Arzt ist keinesfalls der Vorstellung eines rechtlich nicht definierten Hygienefachkreises der MA 15 unterworfen, so das LVwG Wien.
Dem Usus in Wien, wonach alle niedergelassenen Ordinationen stets nur den Empfehlungen der MA 15 folgen müssen, wurde somit eine klare Absage erteilt. Es obliegt letztlich dem Arzt, dafür zu sorgen, dass die erforderlichen Hygienestandards eingehalten werden. Da außer der Hygieneverordnung der Ärztekammer keine klaren gesetzlich vorgeschriebenen Hygienestandards definiert sind, liegt es im Risikobereich des Arztes, welche Standards er implementiert.

mn