Ausbildung für die letzte Etappe
Palliativmedizin wird in Österreich in Form eines Zusatzdiploms gelehrt. Warum diese Ausbildung einer Reform bedarf und ein eigenes Fachgebiet erstrebenswert wäre, wird angesichts der Komplexität des Faches schnell klar.

Durch effiziente Palliativmedizin verschwindet der Wunsch nach einem baldigen Tod meist. Foto: fotolia

Dr. Harald Retschitzegger, MSc
Erst im Jahr 1987 erkannte das „Royal College of Physicians in the United Kingdom and Ireland“ die Palliativmedizin als eigenständige medizinische Fachdisziplin an. Ein Jahr später wurde die europäische Gesellschaft für Palliativmedizin (EAPC) in Mailand gegründet und heute verfügt jedes Land über eine eigene Fachgesellschaft. Dennoch ist nicht allen Betroffenen das Spektrum der Palliativmedizin gänzlich bewusst. Laut Definition der WHO ist Palliativmedizin nämlich „die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer progredienten, weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung zu der Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf eine kurative Behandlung anspricht und die Beherrschung von Schmerzen, anderen Krankheitsbeschwerden, psychologischen, sozialen und spirituellen Problemen höchste Priorität besitzt“. Schmerztherapie ist nur ein Teilbereich, Palliativmedizin geht weit darüber hinaus – nicht zuletzt steht die Psyche des Patienten und der Angehörigen im Vordergrund.
Mehr als Medikation
Dr. Harald Retschitzegger beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Palliativmedizin. Der Präsident der Österreichischen Palliativgesellschaft (OPG) sieht die Forderung nach Facharztanerkennung für Palliativmedizin im Fokus der OPG. Außerdem möchte er die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Hospiz- und Palliativbereich fördern und Palliativmedizin als Pflichtprüfungsfach für Medizinstudierende weiter etablieren. Retschitzegger bestätigt, dass die verbreitete Annahme, die Palliativmedizin beschränke sich auf Medikation, gänzlich unberechtigt ist: „Palliativmedizin geht weit über Medikation hinaus. Die wichtigsten Säulen des Faches sind Haltung, Wissen und Fertigkeiten, Medikamente stellen lediglich einen Teilbereich dar. Kompetente Palliativmedizin umfasst neben Schmerztherapie und Symptomkontrolle interdisziplinäres Verständnis, Ethik, Empathie, Kommunikationsfähigkeit – sowohl mit den Patienten als auch den Angehörigen – und oft die Fähigkeit, die richtigen Entscheidungen zu treffen.“ Wahrscheinlich sei nicht jeder für Palliativmedizin geeignet, genauso wie nicht jeder für die Chirurgie oder die Psychiatrie geeignet sein kann. Manchen liege die Thematik sicher mehr am Herzen als anderen. „Die Grundhaltung ist entscheidend, der Wille, sich damit zu beschäftigen, sich auf die Ebene des Patienten zu begeben und zu kommunizieren. In der Palliativmedizin wird oft anders kommuniziert, mit viel Partizipation und großer Hochachtung vor Entscheidungen und Wünschen. Hier hat ein patriarchalischer Stil keinen Platz.“
Breiteres Ausbildungsspektrum
Während die OPG auf eine Facharzt- oder facharztähnliche palliativmedizinische Ausbildung pocht, wird das Zusatzdiplom durchaus gerne absolviert. Wünschenswert wäre allerdings eine palliativmedizinische Ausbildung jedes Arztes. „Der Großteil der Patienten wird im System der Grundversorgung betreut. Das bedeutet jedoch, dass alle Ärzte, sobald sie mit Patienten zu tun haben, eine palliativmedizinische Basiskompetenz benötigen“, erklärt Retschitzegger. „Etwa 20 % der palliativmedizinischen Patienten benötigen spezielle Unterstützung oder befinden sich in spezialisierten Einrichtungen – dafür brauchen wir intensiv geschulte Ärzte. Insgesamt treten wir daher für eine breite Ausbildung ein, die keine Lücken in der palliativmedizinischen Betreuung zulässt.“
Entscheidendes Kriterium einer funktionierenden Palliativbetreuung ist nämlich der Einsatz vor Ort, dort, wo betroffene Patienten sind. Die Zahl der Palliativbetten sagt hingegen zu wenig über die Qualität der palliativen Kultur aus. Die Anzahl steigt laufend, aber es gibt nach wie vor zu wenige stationäre Hospizbetten. „Wir brauchen eine Durchdringung des Gesundheits-
systems, eine flächendeckende abgestufte Versorgung, denn palliativmedizinische Betreuung muss dort angeboten werden, wo die Palliativpatienten sind“, wünscht sich Retschitzegger. Das Ziel der Palliativmedizin ist grundsätzlich, Menschen nach Hause zu bringen. Zusätzlich seien natürlich Keimzellen, Kristallisationspunkte für komplexe Situationen notwendig, aber dadurch alleine definiere sich nicht die Qualität der Palliativmedizin.
Palliativmedizin und Sterbehilfe
Im Rahmen einer Arbeitssitzung der parlamentarischen Enquete-Kommission „Würde am Ende des Lebens“ im November letzten Jahres thematisierte Prim. Dr. Manfred Greher vom Herz-Jesu Krankenhaus, Sprecher der acht Wiener Ordensspitäler, einmal mehr die kolportierte Nähe der Palliativmedizin zur Sterbehilfe: „Eine flächendeckende und qualitätsvolle palliativmedizinische Versorgung ist die christlich-humanistische Antwort auf Forderungen nach aktiver Sterbehilfe. Sie ist der Gegenentwurf zu Euthanasie-Konzepten, wie wir sie aus Holland oder Belgien kennen, und zum assistierten Suizid in der Schweiz.“ Dass sich insbesondere die Ordensspitäler Gedanken zur Sterbehilfe machen, kommt nicht von ungefähr, denn während insgesamt etwa jedes fünfte Wiener Spitalsbett in einem Ordensspital steht, gilt dies für jedes zweite Palliativbett. Im Rahmen des Franziskusverbundes am Standort St. Elisabeth im dritten Gemeindebezirk wird die größte Palliativstation Österreichs entstehen.
Auch Retschitzegger schlägt in dieselbe Kerbe: „Die Österreichische Palliativgesellschaft steht natürlich für die Ablehnung einer Tötung auf Verlangen und damit einher geht auch die Ablehnung gesetzlicher Änderungen für die Ermöglichung eines assistierten Suizids. Wir treten für den Ausbau der Hospizbewegung ein, für Kompetenzerweiterung und einen Rechtsanspruch auf gute Palliativversorgung“, betont der Präsident. Palliativmedizin ist eben keine Betreuung in den letzten Tagen vor dem Tod, sondern sie versucht, den Patienten eine in ihrer Situation optimierte Lebensqualität zu ermöglichen. Längst haben Erfahrungen bestätigt, dass der Wunsch nach einem baldigen Tod durch effiziente Palliativmedizin meist verschwindet. Gute Hospizarbeit und Palliativversorgung machen den Wunsch nach Sterbehilfe in vielen Fällen überflüssig. bw
Nachgefragt bei ...
... Dr. Harald Retschitzegger, MSc, Präsident der Österreichischen Palliativgesellschaft, Palliativbeauftragter und Geriater im Kuratorium Wiener Pensionistenheime
Wie sieht derzeit die Ausbildung für Palliativmedizin in Österreich aus? Ist sie ausreichend?
Nein. Palliativmedizin ist seit vielen Jahren Teil des Diplomfortbildungsprogramms. Das war ein wichtiger Schritt, aber das Ziel muss sein, dass jeder Arzt eine palliativmedizinische Grundkompetenz erwirbt. Wir möchten daher, dass das Diplom auf breiter Basis weitergeführt wird, darüber hinaus brauchen wir aber auch eine facharztähnliche Ausbildung, um eine Vertiefung und Spezialisierung des Wissens zu ermöglichen, eine fächerübergreifende zusätzliche Weiterbildung, die über zwei, drei Jahre läuft.
Wie gut werden die bestehenden Ausbildungsoptionen genutzt?
Für das bestehende Diplom gibt es erfreulich viele Interessenten. Dennoch sollte man es auch kritisch betrachten: Es ist relativ einfach, ohne allzu großen Aufwand zu erlangen. Das Diplom stellt also eine sinnvolle Grundlage dar, aber wir brauchen mehr intensiv geschulte Palliativmediziner, die durch ihre Ausbildung einen anderen Blickwinkel erhalten, zu intensiver Zusammenarbeit bereit sind – sowohl in interdisziplinärer Hinsicht als auch in der Beziehung zu Patienten und Angehörigen – und sich den tiefgehenden Fragestellungen der Palliativmedizin stellen. Das Diplomprogramm sollte parallel dazu optimiert und ausgebaut werden.
Warum sollen sich Ärzte für eine palliativmedizinische Ausbildung interessieren?
Die Betreuung von Palliativpatienten ist etwas sehr Intensives, Ärzte können viel von den Patienten lernen. Durch die entstehenden Beziehungen und die Fragen der Endlichkeit entwickeln sich intensive Prozesse, die gerade im ärztlichen Beruf nicht alltäglich sind. Die Palliativmedizin leistet einen wichtigen Beitrag in der Beziehung der Menschen zueinander – sie gibt viel, aber es kommt auch viel zurück. Das wissen wir Palliativmediziner sehr zu schätzen.