Ausbildung dort, wo Allgemeinmedizin auch betrieben wird
Ärztekammer-Präsident Dr. Arthur Wechselberger hält die derzeitige Ausbildung zum Allgemeinmediziner durch ihre Fixierung auf die Ausbildung im Krankenhaus für nicht mehr zeitgemäß und wenig geeignet, um den Erfordernissen eines modernen Gesundheitssystems gerecht zu werden.
Sie haben in Ihren ersten Interviews nach Ihrer Wahl mehrfach betont, dass Österreichs Gesundheitssystem eine „Renaissance des Haus- und Vertrauensarztes“ benötigt. Was meinten Sie damit konkret und warum spielt der Hausarzt im heimischen Gesundheitssystem nach Ansicht der Ärztekammer eine so bedeutende Rolle?
Obwohl das medizinische Versorgungssystem in Österreich als Pyramidensystem konzipiert ist, hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten die Gewohnheit entwickelt, dass Patienten Stufen der Versorgungspyramide überspringen und selbst entscheiden, in welcher Versorgungsebene sie in das System einsteigen. Dies führt häufig zur Behandlung in einer Einrichtung, die der Erkrankung nicht adäquat ist. Die Folgen sind unnötige Kostenbelastungen für das Versorgungssystem. Internationale Erfahrungen zeigen, dass die primäre Inanspruchnahme wohnortnaher hausärztlicher Basisversorgung eine Fehlversorgung verhindern kann, ökonomisch sinnvoll und geeignet ist, Patientinnen und Patienten gezielt, rasch und effizient durch den notwendigen Behandlungsprozess zu führen.
Um eine entsprechende Aufwertung des Hausarztes zu erreichen, ist aus Ihrer Sicht eine Reform der postpromotionellen Ausbildung zur Allgemeinmedizin notwendig. Woran krankt es in der aktuellen Ausbildung?
Die Ausbildung zum Allgemeinmediziner ist seit über 50 Jahren praktisch unverändert geblieben und nicht zuletzt durch ihre Fixierung auf die Ausbildung im Krankenhaus den Erfordernissen eines modernen Gesundheitssystems nicht entsprechend.
Was müssen die Kernpunkte einer Ausbildungsreform sein?
Die Ausbildungsdauer muss verlängert werden. Nur so können die Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt werden, die von einem Allgemeinmediziner erwartet werden, damit er seiner Aufgabe als Primärversorger, Begleiter chronisch Kranker sowie als Haus- und Familienarzt gerecht werden kann. Zudem ist zu fordern, dass die Ausbildungsstätten an den Krankenhäusern in der Ausbildung der Allgemeinmediziner den gleichen Standard anlegen und das gleiche Engagement aufbringen wie in der Ausbildung von Fachärzten in den Sonderfächern. Die Turnusärzte in Allgemeinmedizin dürfen nicht als billige Systemerhalter betrachtet werden, bei denen die Ausbildung erst an zweiter Stelle steht.
Eine von Ihnen in der Vergangenheit bereits mehrfach formulierte Forderung betrifft die rasche Umsetzung einer verpflichtenden Lehrpraxis, warum?
Allgemeinmedizinisches Spezialwissen kann nur dort vermittelt werden, wo Allgemeinmedizin betrieben wird – also in der Allgemeinpraxis. Derzeit ist es in Österreich möglich, ohne auch nur einen Tag in einer Allgemeinpraxis gestanden zu haben, Arzt für Allgemeinmedizin zu werden. Das widerspricht den Qualitätserfordernissen einer Ausbildung in einer medizinischen Fachdisziplin. Und Allgemeinmedizin ist eine eigenständige Fachdisziplin, auch wenn das viele noch immer nicht wahrhaben wollen.
Wie soll eine solche Lehrpraxis in der „Praxis“ konkret aussehen?
Idealerweise bräuchten wir, ähnlich wie in Deutschland, eine zweijährige Ausbildung in der Praxis eines erfahrenen Allgemeinmediziners. Nachdem dieses Zeitausmaß derzeit politisch nicht umsetzbar ist, sollten zumindest die letzten zwölf Monate der postpromotionellen Ausbildung verpflichtend der Lehrpraxistätigkeit vorbehalten sein.
Wer soll die benötigten Praxisstellen zur Verfügung stellen?
Wir haben ausreichend anerkannte allgemeinmedizinische Lehrpraxen, sodass ein flächendeckendes Angebot schon gegeben wäre.
Was würden verpflichtende Lehrpraxen an Zusatzkosten verursachen und wer soll diese tragen?
Man muss mit jährlichen Zusatzkosten von ca. 10 Millionen Euro rechnen. Nachdem die Ausbildung in den Sonderfächern von den zumeist öffentlichen Trägern der Krankenanstalten getragen wird, muss auch die Ausbildung in Lehrpraxen öffentlich, das heißt von Bund und Ländern, finanziert werden. Schließlich ist es auch deren Aufgabe, sich um qualifizierten Nachwuchs zur Sicherstellung der allgemeinmedizinischen Versorgung zu kümmern.
Gibt es derzeit konkrete Verhandlungen zu dem Thema und wie zuversichtlich sind Sie, Ihre Forderung in absehbarer Zeit zu verwirklichen?
Gesundheitsminister Stöger hat signalisiert, dass der Bund sechs Ausbildungsmonate finanzieren könnte. Gespräche mit einzelnen Bundesländern zur Übernahme der zweiten Hälfte laufen.
Was muss in der vor- und postpromotionellen Ausbildung der Jungärzte sonst noch reformiert werden, damit es mittelfristig nicht zu dem vielerorts bereits prognostizierten Ärztemangel in Österreich kommt?
Am wichtigsten ist es, die Attraktivität des Arztberufes generell zu steigern. Solange Ärzte bei der Suche nach einer Ausbildungsstelle wie Bittsteller behandelt werden, Arbeitszeitgesetze nicht eingehalten und Ausbildungsärzte mit administrativen und bürokratischen Aufgaben zugeschüttet werden, wird es schwer sein, junge Menschen für den Arztberuf zu begeistern. Ihre Begeisterung gilt primär der Medizin und ihren Möglichkeiten sowie dem ärztlichen Handeln am leidenden, kranken Menschen. Hier gehören sie eingesetzt und in ihrem Wissensdurst unterstützt. Wenn dann das Gehalt auch noch stimmt und eine erstrebenswerte Work-Life-Balance ermöglicht wird, dann hat man schon viel gegen den drohenden Ärztemangel getan.
Eine abschließende Frage zu einem ganz anderen Thema: Was halten Sie als Präsident der Ärztekammer eigentlich von genderspezifischen Aufnahmeverfahren an einzelnen Medizinuniversitäten?
Die an den drei öffentlichen Medizinischen Universitäten verwendeten Aufnahmetests überprüfen ausschließlich die Studieneignung – im Besonderen für das medizinische Grundstudium – und nicht auch für die ärztliche Berufseignung. Zudem hat sich gezeigt, dass in beiden verwendeten Auswahlverfahren Frauen im Mittel schlechter abschnitten als Männer. Dies hatte in den letzten Jahren auch eine deutliche Konsequenz für die Geschlechtsverteilung der Medizinstudenten.
Aufgrund dieser Mängel ist es aus Sicht der Ärztekammer unumgänglich, Auswahlverfahren zu suchen, die den Wünschen der Universitäten nach Selektion von für ein naturwissenschaftlich ausgerichtetes Studium geeigneten Kandidaten ebenso entspricht wie der Forderung der Ärztekammer und dem Bedürfnis der Bevölkerung nach Ausbildung kompetenter Ärztinnen und Ärzte zur Sicherstellung der Patientenversorgung. Jedenfalls müssen diese Auswahlverfahren auch die derzeit fehlende Gendergerechtigkeit sicherstellen. Der Weg, diese über geschlechtsspezifische Auswertungen zu erlangen, erscheint mir dazu aber nicht geeignet. vw
Zur Person
Geboren am 7. November 1952 in Hall/Tirol promovierte Arthur Wechselberger 1977 an der Universität Innsbruck. Nach einer Ausbildung zum Allgemeinmediziner arbeitete Wechselberger als praktischer Arzt und Sprengelarzt in Holzgau/Lechtal, bevor er 1989 eine Ordination in Innsbruck eröffnete. Seit 1990 ist Wechselberger Präsident der Ärztekammer in Tirol, seit 1999 zusätzlich Leiter des Referats für Arbeitsmedizin der Österreichischen Ärztekammer, dessen Präsidium er zwischen 2007 und 2012 in der Funktion eines Vizepräsidenten angehörte. Am 22. Juni 2012 wurde er zum Präsidenten der Österreichischen Ärztekammer gewählt. Wechselberger ist verheiratet und Vater von drei Kindern.