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Aus der Praxis: Cannabinoide

Vor allem in der Schmerztherapie und in der Palliativmedizin finden Cannabinoide bewährte und gesicherte Anwendungen und gehören zum Standardprogramm vieler Ärzte.


„Vor allem die in vielen Diskussionen fehlende klare Unterscheidung über die Legalisierung von Cannabinoiden für den Freizeitgebrauch und die Forderung nach einer großzügigeren Verordnung in der Schmerz- bzw. Palliativtherapie tut der Sache nichts Gutes.“ Ass.-Prof. Dr. Gudrun Rumpold-Seitlinger, Klinische Abteilung für Spezielle Anästhesiologie, Schmerz- und Intensivmedizin, Medizinische Universität Graz.

Warum die aktuelle Diskussion über Legalisierung, breiteren Einsatz, fehlende Forschung und unterschätzte Nebenwirkungen der Nutzung eines grundsätzlich effizienten Arzneimittels nicht dienlich sein kann, erklärt Ass.-Prof. Dr. Gudrun Rumpold-Seitlinger, Klinische Abteilung für Spezielle Anästhesiologie, Schmerz- und Intensivmedizin, Medizinische Universität Graz.

Wie sieht die rechtliche Sachlage für die cannabinoide Schmerztherapie derzeit aus?
Rumpold-Seitlinger: In Österreich werden Cannabinoide vor allem in Form einer Magistraliter-Rezeptur verordnet. Es besteht folglich keine Zulassung. Die Indikation ist daher vom jeweiligen rezeptierenden Arzt zu verantworten. Dieser wird nach den Maßgaben des derzeitigen Standes der medizinischen Wissenschaft bewertet. Es müsste also jedem, der ein Cannabinoid-Präparat verordnet, die Studienlage die Indikation betreffend bekannt sein.

Was sagen die Kassen dazu?
Für die Kostenübernahme gibt es keine allgemeingültigen Kriterien, es wird dies von den einzelnen Krankenkassen sehr unterschiedlich gehandhabt. Die steirische GKK orientiert sich zum Beispiel an den Indikationen, für die kommerzielle Cannabinoid-Präparate international zugelassen wurden. Die Bewilligung erfolgt für therapieresistente Übelkeit und Erbrechen unter laufender Chemo- bzw. Strahlentherapie, ad-on Schmerz-Therapie bei palliativer Situation und therapieresistente Spastik bei Multipler Sklerose. Letztendlich sind Kostenübernahmen medizinische Einzelfallentscheidungen.

Welche Indikationen sind am besten geeignet?
In einer rezenten Übersichtsarbeit konnten Whiting et al. im JAMA eine moderate Evidenz für den Effekt von Cannabinoiden bei chronischen Schmerzen und Spastizität sowie eine geringe Evidenz für positive Effekte bei chemotherapieinduzierter Übelkeit und Erbrechen, Kachexie, Schlafstörungen und Tourette-Syndrom zeigen.

Warum sind Cannabinoide in der Palliativmedizin besonders geeignet?
Palliativpatienten leiden sehr häufig unter einer Symptomkombination, die durch das Wirkspektrum von Cannabinoiden gut abgedeckt werden kann: Nausea, Emesis, Inappetenz, Kachexie. Auch die koanalgetische und antidepressive Wirkung sowie die Verbesserung der Schlafqualität sind in diesen Fällen hilfreich. Es ist also weniger die einzelne Wirkung, die auch mit anderen Substanzen erreicht werden könnte, sondern die Kombination aus unterschiedlichen, in diesem Patientengut erwünschten Effekten, die Cannabinoide in der Palliativmedizin zu einer interessanten Therapieoption machen.
Der Einsatz im palliativmedizinischen Kontext beschränkt sich dabei nicht nur auf Tumorerkrankungen. In Studien wurden Cannabinoide beispielsweise auch bei Palliativpatienten mit HIV oder Alzheimer erfolgreich eingesetzt.

Ein häufiger Kritikpunkt ist die fehlende wissenschaftliche Evidenz. Wie sehen Sie das?
Die Forschung zu Cannabinoiden ist enorm aktiv. Allein 2015 sind fast 1.500 Arbeiten zu diesem Thema erschienen. Die meisten dieser Studien beschäftigen sich natürlich mit Fragestellungen aus der Grundlagenforschung. Das Endocannabinoid-System hat erst in den 1990ern Einzug in das breitere medizinische Verständnis gefunden. Nach wie vor sind hier viele Dinge noch unverstanden. Es braucht also zuerst eine Vertiefung des physiologischen bzw. auch des pharmakologischen Verständnisses.
Die Erforschung der klinischen Anwendung von Cannabinoiden ist ein anderes Thema. Die obengenannte Übersichtsarbeit hat insgesamt nur 79 Studien zum medizinischen Cannabinoid-Einsatz inkludiert. Viele dieser Studien sind allerdings nur in sehr kleinen Kollektiven durchgeführt, was ihre Generalisierbarkeit deutlich einschränkt. Die derzeitige Literatur erlaubt zwar erste Schlüsse, bei welchen Indikationen man sich mehr und bei welchen man weniger Therapie-Erfolg erwarten darf. Verglichen mit der großen Anzahl an klinisch-wissenschaftlichen Erfahrungen zum Beispiel mit Opioiden, befinden wir uns aber noch am Anfang einer seriösen Auseinandersetzung mit einer eigentlich sehr alten Substanz.

Was sind die häufigsten Nebenwirkungen und wie begegnet man ihnen?
Cannabinoid-Nebenwirkungen umfassen Schwindel, Gleichgewichtsstörung, Mundtrockenheit, Übelkeit, Erbrechen, Müdigkeit, Euphorisierung, Orientierungsverlust, Verwirrung bis hin zu Halluzinationen. Beim Auftreten von Nebenwirkungen, insbesondere wenn der erhoffte Therapieeffekt nicht oder nicht ausreichend erzielt wurde, sollte auf andere Therapieoptionen ausgewichen werden.

Welche Maßnahmen wären sinnvoll, um Cannabinoide in der Schmerztherapie besser nutzen zu können?
Auf wissenschaftlicher Ebene ist ein vertieftes Verständnis notwendig, wo und wie Cannabinoide in unserem Körper überall wirken. Darauf aufbauend wären große klinische kontrollierte Studien wünschenswert, in denen nicht nur Wirkungen, sondern auch Nebenwirkungen valide beurteilt werden können.
In der öffentlichen Diskussion sollten die Emotionalität und Irrationalität herausgenommen werden. Weder sind Cannabinoide ein Allheilmittel, noch sollte man grundsätzlich Ressentiments gegen sie haben.
Vor allem die in vielen Diskussionen fehlende klare Unterscheidung über die Legalisierung von Cannabinoiden für den Freizeitgebrauch und die Forderung nach einer großzügigeren Verordnung in der Schmerz- bzw. Palliativtherapie tut der Sache nichts Gutes. bw