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Arbeit auf Rezept?

Schwache Menschen oder schlechte Arbeitsplätze – anders, als es uns das Gesundheitssystem einreden will, ist nichts von beidem der wahre Grund für die vielen Burnout-Opfer in der Gesellschaft.


Dr. Martina Leibovici-Mühlberger, Ärztin, Psychotherapeutin und Unternehmensberaterin

„Menschen sind evolutionär bedingt Kleingruppenwesen, die nicht mehr als 170 andere Menschen kennen können. Um keine Angst vor allen anderen haben zu müssen, mit denen sie noch nicht im Kino oder essen waren, müssten sie auf Selbstvertrauen und Vertrauen in die anderen setzen“, ist die Ärztin, Psychotherapeutin und Unternehmensberaterin Dr. Martina Leibovici-Mühlberger überzeugt. Sie trägt in ihrem aktuellen Buch „Die Burnout-Lüge“ Material zusammen, das belegt, dass in Wirklichkeit ein Systemfehler schuld an den vielen Burnout-Erkrankungen ist. „Die Gesellschaft setzt auf Kontrolle und Überwachung. Sie hat damit schrittweise alles Unvorhergesehene, alles, das Herausforderung ist und Bewährung verlangt, eliminiert. Sie hat damit auch die Grundsätze der Evolution eliminiert, was die sich nicht gefallen lässt. Die Evolution eliminiert ihrerseits die Menschen. „Burnout-Patienten sind keine bedauerlichen Einzelfälle, sondern Vorboten eines Systemcrashs“, meint die Medizinerin.

Müde Gesellschaft

Arbeitsbelastung macht müde – das ist ein normaler Prozess und hat wohl in weit größerem Ausmaß auch schon Generationen vor uns betroffen. Wer nun mehr als der Durchschnitt arbeitet und demnach auch müder wird, für den hat das Gesundheitswesen gesorgt: von Kurzberatungen in Richtung „gesunder Work-Life-Balance“ bis hin zu längeren Kuraufenthalten und Wochenendbeschäftigungen, die den gesunden Egoismus durchblicken lassen, ist das Angebot breit gefächert und im gesellschaftlich akzeptierten Rahmen. Fazit: Die Arbeitsbelastung muss reduziert werden, sodass die gesunden Lebensgeister wieder Einzug halten können. „Die Burnout-Forschung einigte sich in den letzten Jahren darauf, dass das Phänomen physischer, emotionaler und mentaler Erschöpfung eine Konsequenz des Arbeitslebens sein muss. Und es gibt massive Interessen, das auch so zu belassen“, ist die Autorin mit der Erfahrung aus ihrer eigenen Geschichte überzeugt. Umso mehr drängte sich der Medizinerin die Frage auf: „Warum gibt es manche Menschen, die unweigerlich ins Burnout schlittern, andere hingegen – auch bei hoher Arbeitslast – immun dagegen bleiben?“ Und gleichzeitig stellt sich die Frage, warum in einem System mit ausgefeiltem Arbeitsschutz und größter Möglichkeit zu persönlicher Selbstrealisierung immer mehr Menschen in den Sinnverlust abdriften. Die Antwort findet sich in der „Burnout-Lüge“: Besser ist es doch, an uns Einzelnem zu zweifeln, als an einem gesamtgesellschaftlichen System.

Anpassungsfehler

Die Regeln des Systems – Wachstum um jeden Preis – gelten für uns alle, damit betrifft Burnout auch wirklich alle und niemand ist davor gefeit. „Der Mensch dient dem System und ist zu seinem Serviceorgan, zur Aufrechterhaltung von Wachstumsstrategien geworden“, meint Leibovici-Mühlberger und ergänzt: „Wir wären sehr gute Seismografen für eine gesellschaftliche Fehlentwicklung, werden aber dank Burnout rechtzeitig ausgemustert.“ Die Medizinerin ist überzeugt, dass Burnout-Patienten diesen von der Gesellschaft durch übertriebenes Wachstums- und Profitdenken verursachten Verlust ihrer Lebendigkeit rascher merken als viele andere. „Das, was Leben ausmacht, ist das Dynamische, Unvorhersehbare, Herausfordernde. Kreative Lösungen sind in einem System von Verwaltung, Regulierung und Kontrolle nicht mehr gefragt. Nicht das Arbeits- und Lebensumfeld für sich genommen ist Ursache eines Ausbrennens, sondern es handelt sich vielmehr um ein Nicht-Zusammenpassen zwischen dem persönlichen Arbeits- und Lebensumfeld einer Person und ihren Anlagen, Kompetenzen, Möglichkeiten, Strategien, Überzeugungen und Werten andererseits“, postuliert die Autorin.
Der Ausweg liegt ihrer Ansicht nach nicht im Rückzug aus dem Arbeitsprozess, wie es das Gesundheitssystem vorgibt. Arbeit hilft ganz im Gegenteil sogar gegen Burnout, bloß muss es die richtige sein. „Wir dürfen nicht tun, was normierte Lebensverläufe von uns verlangen, sondern was uns wirklich Spaß macht und Sinn gibt, und davon möglichst viel“, so Leibovici-Mühlberger.                      rh

Buchtipp

Martina Leibovici-Mühlberger
Die Burnout-Lüge

Was uns wirklich schwächt. Wie wir stark blieben.
Edition a., Wien 2013, ISBN 978-3-99001-062-4