Achtung Langfinger!
Selbst vor Arztordinationen machen skrupellose Langfinger nicht halt. Ob Kinderspielsachen, Zeitschriften oder Produktproben – so manch Wartezimmer mutiert zum Selbstbedienungsladen.
qEin Wartezimmer beim Kinderarzt. Neben den obligatorischen Kinderspielsachen und Magazinen für Groß und Klein bietet Dr. Huber auch Produktproben für Kindernahrung, Hautcremen und Windeln an, die ihm die entsprechenden Firmen zur Verfügung gestellt haben. Immer wieder stellt der Kinderarzt jedoch fest, dass offenbar manche Eltern ihre Bestände zu Hause aufstocken und längst nicht nur ein Probeexemplar – wie es gedacht wäre – mitnehmen. Auch die Zeitschriften überleben die Zeitspanne, bis sie durch neue ersetzt werden, oftmals nicht. Ist das Zufall? Sind es nur einige wenige, die sich bedienen? Leider nein. In besonders dreisten Fällen kommen sogar Tascheninhalte oder Jacken und Mäntel abhanden, in schlimmen Fällen Rezeptblöcke, wobei es sich dabei glücklicherweise um Einzelfälle handelt. Weitaus am häufigsten werden Zeitschriften das Opfer von Langfingern, was nun auch durch eine Studie mit Evidenz belegt wurde.
Seriöse Forschung
Es klingt ein wenig nach Zeitungsente, dass sich eine Studie tatsächlich mit dem Zeitschriftenschwund in Wartezimmern beschäftigt. Der Arzt und Autor Bruce Arroll und seine Forscherkollegen aus Neuseeland betonen allerdings, dass es sich um ernsthafte Recherchen und Ergebnisse handelt. Im Rahmen seiner Studie „An exploration of the basis for patient complaints about the oldness of magazines in practice waiting rooms: cohort study“ ging Arroll der Frage nach, warum sich seine Patienten laufend darüber beschweren, dass die aufliegenden Zeitschriften veraltet sind. Zu diesem Zweck wurden 87 Zeitschriften und Magazine gemischten Stils auf drei Stapel verteilt und im Wartezimmer platziert. Es handelte sich einerseits um durchaus „seriöse“ Magazine wie das Time Magazine, National Geographic oder The Economist und andererseits um Klatsch- und Tratschzeitschriften, wie wir sie alle kennen – auch wenn wir es gerne leugnen. Letztere mussten mindestens fünf Promi-Fotos auf dem Cover aufweisen. Etwa 3.000 Patienten verkehrten im untersuchten Zeitraum in der betreffenden Praxis.
Verräterisches Ergebnis
Das Resultat der Studie ist vielsagend: Die Zeitschriften wurden auf den Rückseiten markiert und zweimal wöchentlich überprüft. 47 von 87 Magazinen mit einem sichtbaren Datum auf dem Cover waren jünger als zwei Monate alt, der Rest war vor drei bis zwölf Monate erschienen. 28 dieser 47 Magazine – bzw.
60 % – und 10 der 35 älteren Zeitschriften (29 %) verschwanden. Nach 31 Tagen wurde Inventur gemacht: 41 der insgesamt 87 Magazine waren abhanden gekommen – das sind immerhin 47 %. Vor allem die Zeitschriften jüngeren Datums waren begehrt: 59 % davon wurden entwendet, während es von den älteren Magazinen nur halb so viele waren.
Doch auch der Zeitschriftentypus ist entlarvend: Kein einziges der 19 seriösen, Nicht-Klatschmagazine war gestohlen worden, aber immerhin 26 von 27 (96 %) Boulevardblättern. Erstaunlicherweise geben zwar nur wenige Menschen zu, an Tratsch und Klatsch interessiert zu sein. Dennoch sind es eben diese Magazine, die heimlich ihren Weg in die Taschen finden. Eine Dosis Sensationsgier steckt doch wohl in den meisten Menschen und damit ein Faible für Promiklatsch. Der Preis spielt dabei offensichtlich eher eine untergeordnete Rolle, liegen doch die verschmähten Qualitätsmagazine eher im höheren Preissegment.
Kostenfaktor
Für Arroll führte die Studie jedoch zu einem weiteren Resultat: Im Durchschnitt kosteten die abhanden gekommenen Zeitschriften umgerechnet 3,30 Euro. Wenn der Arzt davon ausgeht, dass im Schnitt 41 Hefte pro Monat entwendet werden, ergibt das pro Jahr immerhin 1.600 Euro.
Abgesehen von der Erkenntnis, dass Schein und Sein durchaus weiter auseinanderliegen können als vermutet, ergibt sich für niedergelassene Ärzte mit gut bestückten Wartezimmern folgende Schlussfolgerung: Aus wirtschaftlicher Sicht ist der kostensparende Faktor nicht zu verachten, wenn lediglich seriöse und gegebenenfalls ältere Ausgaben von Magazinen aufgelegt werden. Immerhin ist die Wahrscheinlichkeit von Klatschmagazinen gegenüber seriösen 14-mal höher entwendet zu werden. Ob damit dem Servicecharakter, der immerhin die Präferenzen der Patienten berücksichtigen soll, gedient ist, sei dahingestellt. Als Alternative bietet sich ein elektronisches Informationssystem an, also Wartezimmer-TV. Grundsätzlich ist ja nicht davon auszugehen, dass sich Langfinger auch bei elektronischen Geräten bedienen. Mit Spielzeug und Produktproben kann das Diebstahlrisiko wohl eher kaum eliminiert werden. Hier müssen Ärzte eher auf die Ehrlichkeit der Patienten vertrauen. bw
Quelle: Bruce Arroll et al: An exploration of the basis for patient complaints about the oldness of magazines in practice waiting rooms: cohort study, BMJ 2014;349:g7262